Sonntag, 4. Juni 2017

Outdoor, die Wildnisform des Paradieses

Outdoor ist nicht einfach draußen, sondern ein nichtdigitales Medium, eine blühende Sehnsucht und eine konsumkulturelle Bewegung.



Outdoor – draußen vor der Tür – könnte man einen Ort vermuten, zu dem der Mensch nichts beisteuern muss, weil sich dort etwas ganz von alleine selbst produziert, steuert und verwirklicht: die sogenannte Natur. Da diese aber seit 10.000 Jahren beackert, verwendet, verwandelt und gestaltet wird, hätte sie es eigentlich gar nicht mehr verdient, Natur genannt zu werden. Richtig müsste man all das, was draußen gedeiht, wie etwa Wiese und Wald, Kultur nennen. Dieser Begriff ist schließlich abgeleitet von der Agrikultur, von Anpflanzung und Ackerbau. Trotzdem scheinen wir ohne „Natur“ nicht auszukommen. Wir brauchen sie als symbolischen Gegenpol innerhalb der Kultur, um uns ein Äußeres zur Kultur vorstellen zu können. Etwas, das nicht Kultur wäre. Eine Repräsentation des Unkontrollierten, des Anderen. Einen imaginären „Outdoorbereich“ unserer Zivilisation. 
 
Outdoor ist ein treffender neuer Name für die Natur, die keine mehr ist. Er klingt nach Marketing und spricht dabei ganz ehrenhaft die Wahrheit. Denn obwohl Pflanzen nach wie vor sich selbst produzieren, haben wir längst das Produzieren von Natur selbst in die Hand genommen. Outdoor ist ein wachsender Markt äußerst heterogener Produkte. Vom Geländefahrzeug für den Innenstadtbetrieb über das Himalayazelt für den Campingplatz bis zur App für den Sensor, der stündlich die Bodenfeuchte im Rollrasen misst. Von der Samenbombe des Guerillagärtners über die Gartenmöbelversion eines Designklassikers von Corbusier bis zum Schnittlauchblumentopf für das gemeinschaftlich genutzte Vertikalbeet am Bürodach. 


Wäre die Natur an sich begehrenswert, bräuchten wir vielleicht nicht so viele Werkzeuge, um ihr nachzustellen. Doch sie entzieht sich wie der Horizont, auf den man mit dem Auto zufährt, ohne jemals anzukommen. So ist das eben mit den kulturellen Phantomen: sie halten uns in Bewegung. Um sich mit der Natur zu vereinen, muss man immer noch einen Schritt weiter gehen. Um ins Outdoor zu gelangen, muss man immer noch eine weitere Türe durchschreiten, etwa die in den Garten. So klein dieser auch sein mag, birgt er doch in sich eine verlässliche Unendlichkeit. Mit der Arbeit an ihm wird man niemals fertig sein. Ebenso wird seine Ausstattung immer noch eine kleine Ergänzung ermöglichen. Richtiges „Garteln“ beginnt am Samstag mit einem Großeinkauf.


Beinahe vergessen ist, dass die Natur über Jahrtausende der größte Feind des Menschen war. Eine Umgebung voll von tödlicher Gefahr. Vor dem 18. Jahrhundert wurden Berge nicht als schön empfunden, sondern als hässlich und schreckenerregend. Niemand wäre auf die Idee gekommen, freiwillig in die Höhe zu klettern. Natur war das, was der Mensch beherrschen wollte und musste, um zu überleben. Die Geschichte der Technik ist eine Siegesgeschichte über den Erzfeind, die Natur. 

Wildnis im Paradies
Seit Urzeiten mühten wir uns um die Beherrschung der Natur, jetzt sind wir beherrscht von der Sehnsucht nach ihr und wollen sie zurück. Allerdings nicht in Form einer tatsächlichen Wiedererrichtung ihres grausamen Regimes. Zwar siedeln wir neuerdings Wölfe und Bären in entlegenen Wäldern an. Auf unsere Ausstattung mit Schusswaffen wollen wir jedoch nicht verzichten. Bei den Gartenpflanzen schätzen wir Artenvielfalt und ein breites Sortiment. Bei tödlichen Gewächsen wie Tollkirsche und Fliegenpilz wäre es mit der Natürlichkeit dann aber entschieden zu viel. Man muss schon Impfgegner sein, um Masernviren genau so lieben zu können wie Hauskatzen. 


Auch wenn es garstig klingt: Die gegenwärtige Natur ist eine geschminkte Leiche. Dies ist die Voraussetzung unserer Liebe zu ihr. Das kürzeste Resümee der Menschheitsgeschichte lautet: Wir haben die Technik entwickelt, um die Natur zu besiegen und diese sodann in ästhetisierter Form als Dekoration wieder zur Erscheinung zu bringen. Unser aktueller Naturkult ist eine pseudopazifistische Siegesfeier, die Topfpflanze unsere liebste Trophäe. Seit es Natur nur noch als kulturelles Arrangement gibt, das als Landschaft den gesamten Planeten bedeckt, steht Outdoor für die räumlich projizierte Fantasie eines Außen, eines gelobten Landes, in dem man gleichsam von einem Bären gefressen werden könnte, ohne dabei Schmerz zu empfinden, man dabei am Leben bliebe und auch noch als Zuschauer das abenteuerliche Erlebnis beklatschen könnte. Was wir heute Natur nennen, ist ein Artefakt, eine symbolische Repräsentation jenes Zustands, von dem wir uns einst abgestoßen haben, um zivilisierte Menschen zu werden. Gärten sind dazu da, diesen Triumph gebührend zu feiern und seine Gewalttätigkeit als Vorzeigefriedlichkeit auszugeben.

Kombinatorik von Outdoor-Mythen

Die Frage nach dem Ursprung des Menschen wird von zwei konkurrierenden Outdoor-Mythen beantwortet, der eine spielt in einem Garten, im Paradies. Aus diesem sind wir immer schon vertrieben. Eden ist ein Garten, in dem das Gesetz der Natur, dass ein Wesen sich todbringend übers andere hermacht, nicht gilt. Auch die Notwendigkeit, Nutzpflanzen anzubauen oder auch nur Gartenarbeit zu verrichten, ist hier aufgehoben. Die Sehnsucht nach einem gewaltfreien Dasein auf Erden wird zurück projiziert und als Verlustgeschichte erzählt. 

 
Der zweite Outdoor-Mythos ist viel jünger, er antwortet nicht mehr auf die Mühen des Ackerbaus und der Jagd, sondern auf die normativen Anforderungen der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts: Die „Wildnis“ ist wie das Paradies ein fantasierter Sehnsuchtsort, bewohnt vom „Edlen Wilden“, einem unschuldigen Menschen, der noch nicht von der Gesellschaft und ihrer Kultur verdorben ist. Die Wildnis ist Sinnbild der Kritik an einer bereits hoch entwickelten Zivilisation. Ähnlich wie im Paradies wird hier kein Ackerbau betrieben. Der Idee eines Gartens jedoch steht die Wildnis feindlich gegenüber. Schließlich wurden im Schlosspark zu Versailles Pflanzen als Medien eingesetzt, um die Gesellschaftsordnung abzubilden. Im Barockgarten zeigen sich die Herrschaft über die Natur und die absolutistische Herrschaft über den Menschen als Einheit. Wildnis ist die Antwort darauf – ein Antigarten gegen die Überzivilisation.

Auch heute ist der Garten ein Medium zur Inszenierung gesellschaftlicher Leitbilder, mit stark erweitertem Vokabular. Das idyllische Paradies herrschte im 20. Jahrhundert. Erst mit dem Aufkommen des Ökogedankens erhielt es Konkurrenz von der Wildnis. Mittlerweile treten die beiden Gegenspieler oft gemeinsam auf und in allerlei Mischungen. Im sogenannten „Naturgarten“ etwa will der Mensch künstlich das Natürliche herstellen. Worin die Besonderheit eines „Outdoor-Regenschirms“ besteht, bleibt noch zu klären. Erst in jüngster Zeit ist neben dem Paradies und der Wildnis, neben Ziergarten und Outdoorabenteuer ein dritter botanischer Wunschtraum auf den Plan getreten. Nutzpflanzen verdrängen nun Blumen aus ihren angestammten Beeten, Gemüseanbau ist der letzte Schrei. Seit der Finanzkrise wäre man gerne autark, als Selbstversorger beim Crash vor dem Verhungern bewahrt. Das wird mit Tomaten am Balkon zwar nicht gelingen. Aber beim Paradies und bei der Wildnis hat schließlich auch niemand nach der Realität gefragt.

Erstmals erschienen in Falstaff Living 02/2017