Salat ist keine Kategorie der
Botanik, sondern der Kulinarik. Seine steile Karriere machte er als Verführer.
Aus der Beilage wurde ein Hauptgericht.
Mitte des
20. Jahrhunderts war Salat eine Randerscheinung im engsten Sinne des Wortes.
Serviert wurde er in einer kleinen Glasschüssel neben dem Rand des Tellers
oder, in seiner äußersten Schwundstufe, als einzelnes halbwelkes Blättchen am
Tellerrand, das man besser nicht aß, da es ohnehin nur zu Zwecken der
Dekoration, als grüner Farbtupfer mit rotem Paprikastreifchen, aufgetischt war.
Salat galt
als Arme-Leute-Essen, als Hasenfutter und Sättigungsbeilage. Ein Gericht hatte
ein Zentrum und eine Peripherie, eine Substanz und Nebensächlichkeiten. Am
untersten Punkt in der Wertehierarchie fristete der Salat sein verächtliches Dasein.
Als zierliche Garnitur am Tellerrand war es seine primäre Aufgabe, das Zentrum
kontrastierend zum Zentrum zu machen. Ohne Unwichtigkeiten kann man schließlich
keine Wichtigkeiten verzehren. Hierarchie war noch nicht verpönt, sondern
genoss als gute Ordnung der Gesellschaft höchstes Ansehen.
Doch jede
gute Ordnung braucht ihre bösen Durchbrechungen. Von den 1930er bis in die 1970er Jahre
repräsentierte die Mounier-Bar in der Wiener Kärntnerstraße das Gegenuniversum
zur ordentlichen Salatkultur. Die Tagesbar war eine Sektbar und Salatbar. Hier
gab es nur Salate. Diese waren nicht Randerscheinung, sondern das Zentrum eines
leicht anrüchigen urbanen Mittagsmahls.
In der
Mounier-Bar war alles französisch, und alles Französische galt damals als
Frivolität. Für den sexualunterdrückten Österreicher anno 1965 war eine Reise
zum Moulin Rouge die aufregendste aller erotischen Fantasien. Die
Serviererinnen der Mounier-Bar waren gut ausgesucht für den Import französischen
Flairs ins verschlafene Wien. Sie trugen stark blondierte Beehive-Frisuren,
benannt nach Bienenkörben, die sich von Festigerspray getragen über ihren
Köpfen türmten. Es waren in die Jahre gekommene Schönheiten, gewürzt mit einer
Prise des Ordinären, was bei den Gästen ein nie endendes Rätselraten
provozierte, welchen Beruf denn die Damen zuvor ausgeübt haben könnten.
Zugleich
war in der Mounier alles recht nobel und fein. Man versank tief in den Canapés
und hatte alle Mühe, von den winzigen Tischchen zu essen. Die Zweckwidrigkeiten
übersetzten das Luxuriöse in eine Körpererfahrung.
Diese
frivole Atmosphäre erfüllte die französischen Salate mit aufregender
Bedeutsamkeit. Sie trieften von Fett und Mayonnaisen. Fleischsalat, Fischsalat,
Schinken- , Eier- und Käsesalat, Nudel- und Kartoffelsalate wurden mit modernen
Köstlichkeiten wie Dosenmandarinen und Ananasscheiben veredelt. Curry- und
Remouladensaucen flossen reichlich, Cocktailkirschen waren die Krönung.
Zu unserem
heutigen Verständnis von Salat lässt sich kein stärkerer Kontrast denken. Die
üppig-dekadenten „französischen“ Salate assoziierte man mit Adel und
Großbürgertum, den bodenständigen grünen Salat mit Kleinbürgern, Bauern und
Arbeitern. Die Kulturkampflinie trennte das luxuriös Kultivierte vom Rohen,
Niedrigen, Zurückgebliebenen und Ärmlichen. Rohes Grünzeug galt als Nahrung für
Tiere und „die Wilden“, als Futter außerhalb jeder wahren Zivilisation. Diese
wurde immer noch an der Erfindung des Feuers festgemacht, die das Rohe vom
Gekochten schied.
Lange vor
Beginn des Gesundheitsdenkens strebten junge, modebewusste Frauen bereits nach
Schlankheit. Obwohl deren Motive noch als eitel bekrittelt wurden, waren sie
doch die Initiatorinnen für den Aufstieg des grünen Salats. Der Speisekarten-Hit
Blattsalat mit Hühnerstreifen rückte
das Grünzeug vom Rand ins Zentrum. Die Kombination von Fleisch und Salat hatte ausschließlich
die Funktion, den Magen auch ohne Kohlenhydrate zu füllen.
Den
nächsten Karriereschritt verdankt der Salat seiner Farbe, die nicht zufällig
identisch war mit einer neuen politischen Bewegung, die Anfang der 80er Jahre
an Breite gewann. Die Grünen stellten die alte Hierarchie zwischen Kultur und
Natur auf den Kopf. Kulturprodukte wie Wiese und Wald wurden zur Natur erklärt
und zum gesellschaftlichen Ideal verklärt. Bis heute zieren grünfärbige
Idealbilder des vermeintlich Natürlichen jede Kunststoffverpackung von
Lebensmitteln im Supermarktregal. Ihre Aufgabe ist es, die Verdacht weckende
Länge der Inhaltsstofflisten ästhetisch zu kompensieren.
Seither
gilt der grüne Salat als essbarer Inbegriff aller grünen Ideen. Mit deren
Erfolg wuchs sein eigener. So sehr, dass heute schon ein einzelnes
Salatblättchen genügt, Fastfood wie Hamburger oder Salamiweckerl das Image des
Natürlichen zu implementieren. Gemeinsam mit oben aufgeklebten Körnern ist das
seitlich hervortretende Salatblatt so etwas wie eine Fahne des imaginären
Naturguten.
Während das
Natürliche anfänglich bloß als antiindustriell, antikapitalistisch und
antichemisch definiert war, wuchs seine Bedeutung, als ab den 1990er Jahren der
Wert des Gesunden damit gleichgesetzt wurde. Der Weg des Salats durch die
jüngere Geschichte gleicht dem eines Sammlers – von jedem Trend nimmt er sich
ein Stückchen Bedeutung mit. Jedes seiner Blätter ist heute dicht beschrieben
mit allen heiligen Modeworten und -werten unserer Zeit. Es kündet uns von
Schlankheit, Sportlichkeit, Gesundheit, Reinheit, Regionalität und Naturverbundenheit,
auch wenn es nur auf der Autobahnraststätte aus einem eingeschweißten Kornspitz
quillt.
Kann ein
Pflänzchen mehr Bedeutung haben? Es kann! Seit Grün nicht mehr mit
Umweltverschmutzung, sondern Klimakatastrophe argumentiert wird, hat sich der
gute Sinn des Salats in planetarische Dimensionen erweitert. Angesichts solcher
Bedrohlichkeit ist der Salatpflanze neuerdings auch noch ein moralischer
Mehrwert zugewachsen. Freilich nur symbolisch – die Umweltschäden spanischer
Salat-Massenproduktion für den deutschen Markt stehen auf einem anderen Blatt.
Auch beim
aktuellsten Trend steht der grüne Salat im symbolischen Zentrum und gewinnt
weiter an moralischer Aufladung. Gesundheit war noch ein egoistischer Wert,
Wetterrettung zwar schon altruistisch, aber immer noch egoistisch auf den
Menschen bezogen. Erst mit der Ausweitung auf das Tierreich ist die Moral beim
totalen Altruismus angelangt. Im Vegetarismus und Veganismus symbolisiert der
Salat das Nichttierische schlechthin, den demonstrativen Tierverzicht auf dem
Teller.
Der Trend
zur fleischlosen Ernährung bringt für den Salat zwar die höchste Stufe seiner
Wertansammlung, zugleich aber auch seine letzte. Setzt sich der Veganismus
durch, ist die Geschichte des Salats zu Ende. So wie dem Fisch der Begriff vom
Wasser fehlt, solange er nicht gefischt wird, braucht es auch keinen Salatbegriff
mehr, wenn die Menschheit nur noch von Grünfutter lebt. Die trendige Speise von
heute präsentiert sich als Zusammenstellung warmer und kalter Pflanzenteile. Wenn
alles Salat ist, ist nichts mehr Salat.
Die
gesundheitsfördernden Eigenschaften des Salats sind – gelinde gesagt –
umstritten. Er habe „die Ernährungsphysiologie eines Papiertaschentuchs mit
einem Glas stillen Wassers“, bescheinigt ihm der Lebensmittelchemiker Udo
Pollmer. Sein Gehalt an Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen sei
unterdurchschnittlich, der Rest eine „große Salatlüge“.
Die Wahrheit
des Salats ist, dass er seine steile Karriere als Botschafter gemacht hat.
Jeden Trend, jede neue Ideologie, jeden Wertewandel trug er durch den Mund in
die Menschen hinein. Sein Mangel an materiellen Inhaltsstoffen scheint ihn zu
prädestinieren, als stofflicher Träger gedanklicher Inhalte so erfolgreich zu
sein.
Erschienen in: Falstaff Living