Samstag, 12. November 2016

Sex und Tugend des Salats



Salat ist keine Kategorie der Botanik, sondern der Kulinarik. Seine steile Karriere machte er als Verführer. Aus der Beilage wurde ein Hauptgericht.

Mitte des 20. Jahrhunderts war Salat eine Randerscheinung im engsten Sinne des Wortes. Serviert wurde er in einer kleinen Glasschüssel neben dem Rand des Tellers oder, in seiner äußersten Schwundstufe, als einzelnes halbwelkes Blättchen am Tellerrand, das man besser nicht aß, da es ohnehin nur zu Zwecken der Dekoration, als grüner Farbtupfer mit rotem Paprikastreifchen, aufgetischt war.

Salat galt als Arme-Leute-Essen, als Hasenfutter und Sättigungsbeilage. Ein Gericht hatte ein Zentrum und eine Peripherie, eine Substanz und Nebensächlichkeiten. Am untersten Punkt in der Wertehierarchie fristete der Salat sein verächtliches Dasein. Als zierliche Garnitur am Tellerrand war es seine primäre Aufgabe, das Zentrum kontrastierend zum Zentrum zu machen. Ohne Unwichtigkeiten kann man schließlich keine Wichtigkeiten verzehren. Hierarchie war noch nicht verpönt, sondern genoss als gute Ordnung der Gesellschaft höchstes Ansehen.

Doch jede gute Ordnung braucht ihre bösen Durchbrechungen.  Von den 1930er bis in die 1970er Jahre repräsentierte die Mounier-Bar in der Wiener Kärntnerstraße das Gegenuniversum zur ordentlichen Salatkultur. Die Tagesbar war eine Sektbar und Salatbar. Hier gab es nur Salate. Diese waren nicht Randerscheinung, sondern das Zentrum eines leicht anrüchigen urbanen Mittagsmahls.

In der Mounier-Bar war alles französisch, und alles Französische galt damals als Frivolität. Für den sexualunterdrückten Österreicher anno 1965 war eine Reise zum Moulin Rouge die aufregendste aller erotischen Fantasien. Die Serviererinnen der Mounier-Bar waren gut ausgesucht für den Import französischen Flairs ins verschlafene Wien. Sie trugen stark blondierte Beehive-Frisuren, benannt nach Bienenkörben, die sich von Festigerspray getragen über ihren Köpfen türmten. Es waren in die Jahre gekommene Schönheiten, gewürzt mit einer Prise des Ordinären, was bei den Gästen ein nie endendes Rätselraten provozierte, welchen Beruf denn die Damen zuvor ausgeübt haben könnten. 

Zugleich war in der Mounier alles recht nobel und fein. Man versank tief in den Canapés und hatte alle Mühe, von den winzigen Tischchen zu essen. Die Zweckwidrigkeiten übersetzten das Luxuriöse in eine Körpererfahrung.
Diese frivole Atmosphäre erfüllte die französischen Salate mit aufregender Bedeutsamkeit. Sie trieften von Fett und Mayonnaisen. Fleischsalat, Fischsalat, Schinken- , Eier- und Käsesalat, Nudel- und Kartoffelsalate wurden mit modernen Köstlichkeiten wie Dosenmandarinen und Ananasscheiben veredelt. Curry- und Remouladensaucen flossen reichlich, Cocktailkirschen waren die Krönung.

Zu unserem heutigen Verständnis von Salat lässt sich kein stärkerer Kontrast denken. Die üppig-dekadenten „französischen“ Salate assoziierte man mit Adel und Großbürgertum, den bodenständigen grünen Salat mit Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern. Die Kulturkampflinie trennte das luxuriös Kultivierte vom Rohen, Niedrigen, Zurückgebliebenen und Ärmlichen. Rohes Grünzeug galt als Nahrung für Tiere und „die Wilden“, als Futter außerhalb jeder wahren Zivilisation. Diese wurde immer noch an der Erfindung des Feuers festgemacht, die das Rohe vom Gekochten schied.

Lange vor Beginn des Gesundheitsdenkens strebten junge, modebewusste Frauen bereits nach Schlankheit. Obwohl deren Motive noch als eitel bekrittelt wurden, waren sie doch die Initiatorinnen für den Aufstieg des grünen Salats. Der Speisekarten-Hit Blattsalat mit Hühnerstreifen rückte das Grünzeug vom Rand ins Zentrum. Die Kombination von Fleisch und Salat hatte ausschließlich die Funktion, den Magen auch ohne Kohlenhydrate zu füllen.
Den nächsten Karriereschritt verdankt der Salat seiner Farbe, die nicht zufällig identisch war mit einer neuen politischen Bewegung, die Anfang der 80er Jahre an Breite gewann. Die Grünen stellten die alte Hierarchie zwischen Kultur und Natur auf den Kopf. Kulturprodukte wie Wiese und Wald wurden zur Natur erklärt und zum gesellschaftlichen Ideal verklärt. Bis heute zieren grünfärbige Idealbilder des vermeintlich Natürlichen jede Kunststoffverpackung von Lebensmitteln im Supermarktregal. Ihre Aufgabe ist es, die Verdacht weckende Länge der Inhaltsstofflisten ästhetisch zu kompensieren.

Seither gilt der grüne Salat als essbarer Inbegriff aller grünen Ideen. Mit deren Erfolg wuchs sein eigener. So sehr, dass heute schon ein einzelnes Salatblättchen genügt, Fastfood wie Hamburger oder Salamiweckerl das Image des Natürlichen zu implementieren. Gemeinsam mit oben aufgeklebten Körnern ist das seitlich hervortretende Salatblatt so etwas wie eine Fahne des imaginären Naturguten.

Während das Natürliche anfänglich bloß als antiindustriell, antikapitalistisch und antichemisch definiert war, wuchs seine Bedeutung, als ab den 1990er Jahren der Wert des Gesunden damit gleichgesetzt wurde. Der Weg des Salats durch die jüngere Geschichte gleicht dem eines Sammlers – von jedem Trend nimmt er sich ein Stückchen Bedeutung mit. Jedes seiner Blätter ist heute dicht beschrieben mit allen heiligen Modeworten und -werten unserer Zeit. Es kündet uns von Schlankheit, Sportlichkeit, Gesundheit, Reinheit, Regionalität und Naturverbundenheit, auch wenn es nur auf der Autobahnraststätte aus einem eingeschweißten Kornspitz quillt.

Kann ein Pflänzchen mehr Bedeutung haben? Es kann! Seit Grün nicht mehr mit Umweltverschmutzung, sondern Klimakatastrophe argumentiert wird, hat sich der gute Sinn des Salats in planetarische Dimensionen erweitert. Angesichts solcher Bedrohlichkeit ist der Salatpflanze neuerdings auch noch ein moralischer Mehrwert zugewachsen. Freilich nur symbolisch – die Umweltschäden spanischer Salat-Massenproduktion für den deutschen Markt stehen auf einem anderen Blatt.
Auch beim aktuellsten Trend steht der grüne Salat im symbolischen Zentrum und gewinnt weiter an moralischer Aufladung. Gesundheit war noch ein egoistischer Wert, Wetterrettung zwar schon altruistisch, aber immer noch egoistisch auf den Menschen bezogen. Erst mit der Ausweitung auf das Tierreich ist die Moral beim totalen Altruismus angelangt. Im Vegetarismus und Veganismus symbolisiert der Salat das Nichttierische schlechthin, den demonstrativen Tierverzicht auf dem Teller.

Der Trend zur fleischlosen Ernährung bringt für den Salat zwar die höchste Stufe seiner Wertansammlung, zugleich aber auch seine letzte. Setzt sich der Veganismus durch, ist die Geschichte des Salats zu Ende. So wie dem Fisch der Begriff vom Wasser fehlt, solange er nicht gefischt wird, braucht es auch keinen Salatbegriff mehr, wenn die Menschheit nur noch von Grünfutter lebt. Die trendige Speise von heute präsentiert sich als Zusammenstellung warmer und kalter Pflanzenteile. Wenn alles Salat ist, ist nichts mehr Salat.

Die gesundheitsfördernden Eigenschaften des Salats sind – gelinde gesagt – umstritten. Er habe „die Ernährungsphysiologie eines Papiertaschentuchs mit einem Glas stillen Wassers“, bescheinigt ihm der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer. Sein Gehalt an Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen sei unterdurchschnittlich, der Rest eine „große Salatlüge“.


Die Wahrheit des Salats ist, dass er seine steile Karriere als Botschafter gemacht hat. Jeden Trend, jede neue Ideologie, jeden Wertewandel trug er durch den Mund in die Menschen hinein. Sein Mangel an materiellen Inhaltsstoffen scheint ihn zu prädestinieren, als stofflicher Träger gedanklicher Inhalte so erfolgreich zu sein.

Erschienen in: Falstaff Living