Freitag, 16. Dezember 2016

Warum Sofas begehrenswert sind

Sofa Freistil von Rolf Benz


Wir alle sind Sofasurfer. Mit Knabbergebäck und Bierdose auf der Fernsehcouch findet der moderne Mensch seine Mitte. Warum ist das so?

Die erfolgreichste kulturelle Erfindung des letzten halben Jahrhunderts war die Fernsehcouch. Gemeinsam mit einem niedrigen Tischchen und dem Fernsehapparat ist sie das Zentrum eines Rituals, zu dem auch spezielle Speisen und Getränke gehören. Diese müssen nicht nur praktisch für den Verzehr im freien Luftraum geeignet sein, sondern auch dem Geist des Sofasitzens gerecht werden.

Sigmund Freud hatte die Couch zum Werkzeug seiner Heilbehandlung gewählt, weil sie den Körper in eine Mittelstellung bringt zwischen Sitzen und Liegen. Liegenden droht die Gefahr, einzuschlafen. Aufrechtes Sitzen hielte die bürgerliche Tagesverfassung sittsamer Selbstkontrolle allzu sehr aufrecht. Die 45° Sitzstellung sollte die Wachsamkeit über die innere Traumwelt schwächen. Als Heilinstrument war es die Aufgabe der Chaiselongue, eine Übergangszone zwischen der Tagwelt der Selbstüberwachung und der Nachtwelt der Traumversunkenheit zu installieren.

Freuds Couch bringt Träume und Unbewusstes zur Sprache und zutage. Wie die moderne Fernsehcouch kombiniert sie eine plappernde Tonspur mit dem phantastischen Geschehen eines inneren Films. Auch die Couch selbst hat ein Unbewusstes, das sie uns erzählen kann. In ihren Polstern stecken persönliche Erinnerungen, allgemeine Assoziationen und kulturelles Gedächtnis. Diese Bedeutungstiefe machen wir uns nicht bewusst, weil wir ja gar nichts anderes als sitzen, fernsehen und knabbern wollen.

Betrachten wir das idealtypische Sofa unserer Zeit. Stilistisch vom Bauhaus inspiriert, übertreibt es dessen Prinzipien des Rechteckigen und Flachen in neomodernistischer Manier. Warum ist das heutige Sofa so niedrig, warum die Sitzfläche viel tiefer, als ein Menschenschenkel lang ist? Die Motive dieses Designs liegen im kulturellen Bruch der 1960er Jahre, im Protest gegen den „aufrechten Bürger“. Für diesen war eine Körperhaltung wichtig, die Selbstbeherrschung, Höflichkeit, gutes Benehmen, Respekt und Distanz signalisierte. „Sitz ordentlich!“, wurden die Kinder häufig gemahnt – das schlimme Gegenstück zum disziplinierten Sitzen nannte man „Lümmeln“. Sitzmöbel der 50er Jahre hatten Modernität noch bewiesen durch Buntheit, Streulage und Abrundungen, die auf die Aerodynamik der Fahrzeuge anspielten. Die Sitzstellungen aber blieben von wohlerzogener Artigkeit und aufrechter Haltung geprägt. In einem weichen Polstermöbel zu versinken war nicht angebracht.

Die Hippies brachen mit traditionellen Förmlichkeiten und propagierten die Entformalisierung aller Lebensbereiche. Beim Zusammensitzen im Wohnzimmer wurde auf Höflichkeitsfloskeln ebenso verzichtet wie auf stramme Körperhaltungen. Nicht länger steif und förmlich, sondern unmittelbar, direkt, locker und entspannt wollte man nun beisammen sein. Aufrechte Haltung geriet in den begründeten Verdacht militärischen Ursprungs. Die Nazizeit war von Exzessen der Rückgrat-Begradigung zum Aufrechten geprägt gewesen. Dem antwortete die Protestgeneration mit radikaler Horizontalisierung. Das Wohnen und Sitzen zeigte ab 68 einen Hang zum Bodennahen.

Sitzmöbel widersprachen generell dem Geist der neuen Zeit. Schließlich wollte man die Zivilisationsgeschichte rückabwickeln. Dabei landete man auf dem Boden und erklärte diesen zur ideologisch optimalen Sitzfläche. Die Idee des „Guten Wilden“ von Rousseau wurde nicht nur frisurtechnisch, sondern auch wohnräumlich nachinszeniert. Auch die Kinder waren nun Vorbilder, soweit sie unerzogen waren und damit zeigten, noch nicht von der Zivilisation verdorben zu sein. Kinder und „Wilde“ sitzen ihrer Natur nach nicht aufrecht auf Stühlen. Sie gehen barfuß und hocken am Boden.

Der zottelig weiche Flokatiteppich linderte ein wenig die Unbequemlichkeit beim „Sit-in“. Der Sitzsack war eine Kompromissbildung zwischen Boden und Sitzmöbel. Er inszenierte das Prinzip der Entformalisierung in Reinkultur. Auch dementierte er, überhaupt ein Möbel zu sein. Tiefer ins Bodennahe ist die Menschheit niemals versunken. Abkehr von sozialen Hierarchien und Streben nach ökonomischer Gleichheit fanden sitztechnisch in der Bodenhaltung ihren privaten Ausdruck. Hohe und aufrechte Sessel verströmten nun den Geruch des Antimarxistischen.

Die ideale Couch der Gegenwart weiß nichts mehr vom Kulturkampf ums Gesäß, trägt aber seine Spuren. Auf dünnen Beinen schwebt sie unterhalb der Wadenlänge. Mit ihrer Sitztiefe können die Oberschenkel nicht mithalten. Auch ist sie länger als der ganze Mensch. Damit zwingt sie zu einer Sitzhaltung, die weder vom Design des Möbels noch von gesellschaftlicher Sitte vorgegeben ist, sondern spontan und wechselhaft vom Sitzenden ganz autonom und individuell gefunden werden muss. Die einst vom formlosen Bodensitzen demonstrierte Freiheit der Gesellschaft lebt in der vom Sofadesign erzwungenen Freiheit der Körperhaltung fort. Im politisch-ökonomischen Kontext der Gegenwart hat sich die Freiheit jedoch in eine Inszenierung von Freizeit verwandelt, die privat und individuell zu nutzen ist.

Als Freizeitmöbel steht die bodennahe Lümmelfläche nicht mehr in Opposition zur alten Disziplinargesellschaft der Fremdzwänge. Sie dient vielmehr zur Kompensation der freiwilligen Arbeitsüberlastung in der Konkurrenzgesellschaft. Wer nach der Arbeit entspannt, chillt oder abhängt, tut dies meist im Geist der Erholung. Erholung macht fit für die Arbeit. Das Sofasitzen erhält damit einen von der Arbeitsleistung abgeleiteten Wert. „Ich muss mich in der Freizeit entspannen“, sagt man heute. So betrachtet wird die Couch zum Werkzeug der Selbstoptimierung, gerade weil sie die zeitweilige Entlastung von der Arbeitspflicht wie eine Bühne körpertheatralisch inszeniert.

Auf dem Sofa befindet man sich gleichsam im Leo, entrinnt den wachsenden Anforderungen an Strebsamkeit und Moral. Dazu passt, dass es sich hier auch für die klügsten Leute geziemt, die dümmsten aller Fernsehserien auf sich einströmen zu lassen. Der die Aktivitätspflicht kompensierende Passivitätskult des Sofasitzens hat auch die Rezeption des Mediums verändert. In der Frühzeit waren die Menschen noch aufmerksam vor dem Fernseher gesessen und hatten so diszipliniert eine „Sendung“ verfolgt, wie in der Kirche die Predigt, in der Schule den Unterricht oder im Kino ein Werk der Filmkunst. Ab den 70er Jahren entzogen immer mehr Leute der Flimmerkiste ihre Aufmerksamkeit. Der Fernseher lief den ganzen Tag, aber man sah nicht mehr hin und hörte nicht zu.

Die heute allgemein geltende „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ ist auf dem Fernsehsofa ausgesetzt, hier ist die Unaufmerksamkeit Programm. Man plaudert, kuschelt und telefoniert, schreibt Whatsapp-Nachrichten, streunt durchs Web per Tablet. Das Sofa ist die Entlastungszone von allem, was man soll. Deshalb schickt es sich auf der Fernsehcouch nicht, ein Bier aus dem Glase zu trinken oder den Hamburger mit Besteck vom weißen Teller zu essen. Der Couchtisch muss niedrig sein, um etwaige Ambitionen, beim TV-Dinner nicht wie ein Kind kleckern und bröseln zu wollen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Knabbergebäck muss hier ausnahmsweise der Gesundheitspflicht trotzen. Wer eine Karotte vorzieht, hat den Kult nicht verstanden. Auf der Fernsehcouch wollen wir nicht aktiv Gutes essen. Wir wollen von der schlimmen Industrie gefüttert sein.

Erschienen in Falstaff Living 2016 

Samstag, 12. November 2016

Sex und Tugend des Salats



Salat ist keine Kategorie der Botanik, sondern der Kulinarik. Seine steile Karriere machte er als Verführer. Aus der Beilage wurde ein Hauptgericht.

Mitte des 20. Jahrhunderts war Salat eine Randerscheinung im engsten Sinne des Wortes. Serviert wurde er in einer kleinen Glasschüssel neben dem Rand des Tellers oder, in seiner äußersten Schwundstufe, als einzelnes halbwelkes Blättchen am Tellerrand, das man besser nicht aß, da es ohnehin nur zu Zwecken der Dekoration, als grüner Farbtupfer mit rotem Paprikastreifchen, aufgetischt war.

Salat galt als Arme-Leute-Essen, als Hasenfutter und Sättigungsbeilage. Ein Gericht hatte ein Zentrum und eine Peripherie, eine Substanz und Nebensächlichkeiten. Am untersten Punkt in der Wertehierarchie fristete der Salat sein verächtliches Dasein. Als zierliche Garnitur am Tellerrand war es seine primäre Aufgabe, das Zentrum kontrastierend zum Zentrum zu machen. Ohne Unwichtigkeiten kann man schließlich keine Wichtigkeiten verzehren. Hierarchie war noch nicht verpönt, sondern genoss als gute Ordnung der Gesellschaft höchstes Ansehen.

Doch jede gute Ordnung braucht ihre bösen Durchbrechungen.  Von den 1930er bis in die 1970er Jahre repräsentierte die Mounier-Bar in der Wiener Kärntnerstraße das Gegenuniversum zur ordentlichen Salatkultur. Die Tagesbar war eine Sektbar und Salatbar. Hier gab es nur Salate. Diese waren nicht Randerscheinung, sondern das Zentrum eines leicht anrüchigen urbanen Mittagsmahls.

In der Mounier-Bar war alles französisch, und alles Französische galt damals als Frivolität. Für den sexualunterdrückten Österreicher anno 1965 war eine Reise zum Moulin Rouge die aufregendste aller erotischen Fantasien. Die Serviererinnen der Mounier-Bar waren gut ausgesucht für den Import französischen Flairs ins verschlafene Wien. Sie trugen stark blondierte Beehive-Frisuren, benannt nach Bienenkörben, die sich von Festigerspray getragen über ihren Köpfen türmten. Es waren in die Jahre gekommene Schönheiten, gewürzt mit einer Prise des Ordinären, was bei den Gästen ein nie endendes Rätselraten provozierte, welchen Beruf denn die Damen zuvor ausgeübt haben könnten. 

Zugleich war in der Mounier alles recht nobel und fein. Man versank tief in den Canapés und hatte alle Mühe, von den winzigen Tischchen zu essen. Die Zweckwidrigkeiten übersetzten das Luxuriöse in eine Körpererfahrung.
Diese frivole Atmosphäre erfüllte die französischen Salate mit aufregender Bedeutsamkeit. Sie trieften von Fett und Mayonnaisen. Fleischsalat, Fischsalat, Schinken- , Eier- und Käsesalat, Nudel- und Kartoffelsalate wurden mit modernen Köstlichkeiten wie Dosenmandarinen und Ananasscheiben veredelt. Curry- und Remouladensaucen flossen reichlich, Cocktailkirschen waren die Krönung.

Zu unserem heutigen Verständnis von Salat lässt sich kein stärkerer Kontrast denken. Die üppig-dekadenten „französischen“ Salate assoziierte man mit Adel und Großbürgertum, den bodenständigen grünen Salat mit Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern. Die Kulturkampflinie trennte das luxuriös Kultivierte vom Rohen, Niedrigen, Zurückgebliebenen und Ärmlichen. Rohes Grünzeug galt als Nahrung für Tiere und „die Wilden“, als Futter außerhalb jeder wahren Zivilisation. Diese wurde immer noch an der Erfindung des Feuers festgemacht, die das Rohe vom Gekochten schied.

Lange vor Beginn des Gesundheitsdenkens strebten junge, modebewusste Frauen bereits nach Schlankheit. Obwohl deren Motive noch als eitel bekrittelt wurden, waren sie doch die Initiatorinnen für den Aufstieg des grünen Salats. Der Speisekarten-Hit Blattsalat mit Hühnerstreifen rückte das Grünzeug vom Rand ins Zentrum. Die Kombination von Fleisch und Salat hatte ausschließlich die Funktion, den Magen auch ohne Kohlenhydrate zu füllen.
Den nächsten Karriereschritt verdankt der Salat seiner Farbe, die nicht zufällig identisch war mit einer neuen politischen Bewegung, die Anfang der 80er Jahre an Breite gewann. Die Grünen stellten die alte Hierarchie zwischen Kultur und Natur auf den Kopf. Kulturprodukte wie Wiese und Wald wurden zur Natur erklärt und zum gesellschaftlichen Ideal verklärt. Bis heute zieren grünfärbige Idealbilder des vermeintlich Natürlichen jede Kunststoffverpackung von Lebensmitteln im Supermarktregal. Ihre Aufgabe ist es, die Verdacht weckende Länge der Inhaltsstofflisten ästhetisch zu kompensieren.

Seither gilt der grüne Salat als essbarer Inbegriff aller grünen Ideen. Mit deren Erfolg wuchs sein eigener. So sehr, dass heute schon ein einzelnes Salatblättchen genügt, Fastfood wie Hamburger oder Salamiweckerl das Image des Natürlichen zu implementieren. Gemeinsam mit oben aufgeklebten Körnern ist das seitlich hervortretende Salatblatt so etwas wie eine Fahne des imaginären Naturguten.

Während das Natürliche anfänglich bloß als antiindustriell, antikapitalistisch und antichemisch definiert war, wuchs seine Bedeutung, als ab den 1990er Jahren der Wert des Gesunden damit gleichgesetzt wurde. Der Weg des Salats durch die jüngere Geschichte gleicht dem eines Sammlers – von jedem Trend nimmt er sich ein Stückchen Bedeutung mit. Jedes seiner Blätter ist heute dicht beschrieben mit allen heiligen Modeworten und -werten unserer Zeit. Es kündet uns von Schlankheit, Sportlichkeit, Gesundheit, Reinheit, Regionalität und Naturverbundenheit, auch wenn es nur auf der Autobahnraststätte aus einem eingeschweißten Kornspitz quillt.

Kann ein Pflänzchen mehr Bedeutung haben? Es kann! Seit Grün nicht mehr mit Umweltverschmutzung, sondern Klimakatastrophe argumentiert wird, hat sich der gute Sinn des Salats in planetarische Dimensionen erweitert. Angesichts solcher Bedrohlichkeit ist der Salatpflanze neuerdings auch noch ein moralischer Mehrwert zugewachsen. Freilich nur symbolisch – die Umweltschäden spanischer Salat-Massenproduktion für den deutschen Markt stehen auf einem anderen Blatt.
Auch beim aktuellsten Trend steht der grüne Salat im symbolischen Zentrum und gewinnt weiter an moralischer Aufladung. Gesundheit war noch ein egoistischer Wert, Wetterrettung zwar schon altruistisch, aber immer noch egoistisch auf den Menschen bezogen. Erst mit der Ausweitung auf das Tierreich ist die Moral beim totalen Altruismus angelangt. Im Vegetarismus und Veganismus symbolisiert der Salat das Nichttierische schlechthin, den demonstrativen Tierverzicht auf dem Teller.

Der Trend zur fleischlosen Ernährung bringt für den Salat zwar die höchste Stufe seiner Wertansammlung, zugleich aber auch seine letzte. Setzt sich der Veganismus durch, ist die Geschichte des Salats zu Ende. So wie dem Fisch der Begriff vom Wasser fehlt, solange er nicht gefischt wird, braucht es auch keinen Salatbegriff mehr, wenn die Menschheit nur noch von Grünfutter lebt. Die trendige Speise von heute präsentiert sich als Zusammenstellung warmer und kalter Pflanzenteile. Wenn alles Salat ist, ist nichts mehr Salat.

Die gesundheitsfördernden Eigenschaften des Salats sind – gelinde gesagt – umstritten. Er habe „die Ernährungsphysiologie eines Papiertaschentuchs mit einem Glas stillen Wassers“, bescheinigt ihm der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer. Sein Gehalt an Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen sei unterdurchschnittlich, der Rest eine „große Salatlüge“.


Die Wahrheit des Salats ist, dass er seine steile Karriere als Botschafter gemacht hat. Jeden Trend, jede neue Ideologie, jeden Wertewandel trug er durch den Mund in die Menschen hinein. Sein Mangel an materiellen Inhaltsstoffen scheint ihn zu prädestinieren, als stofflicher Träger gedanklicher Inhalte so erfolgreich zu sein.

Erschienen in: Falstaff Living 

Montag, 31. Oktober 2016

Holz und Wellness



Der Wellness-Kult hat das Material Holz umcodiert. Seither hat Holz einen "Wellnessfaktor". Das alltägliche Material erglänzt im Schein neuer Werte.



Bild: Wellnesszone von Brantner Holz Manufaktur  Website 

Viele Dinge des Alltags sind aus Holz. Bei vielen von ihnen ist uns das Holz so alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Utensilien nannte man einst jene Gegenstände, bei denen der Gebrauch so stark im Vordergrund steht, dass wir den Unterschieden ihrer materiellen Beschaffenheit nicht allzu viel Aufmerksamkeit widmen. Zu Kleiderbügeln, Kochlöffeln und Bleistiften pflegt nur ein kleiner Teil der Menschen die intensivierte Beziehungsform des Gourmets oder Fetischisten. Woraus Zahnstocher, Eis-Stiele und Streichhölzer bestehen, ist schließlich allen egal.

Doch es gibt sie: Stammkunden des Manufactum-Katalogs, Alphamänner, die auf hölzerne Schuhstrecker schwören, Kräuterfrauen, die fürchten, aus dem Kunststoffschneidbrett könnten böse Moleküle vergiftend ins Biogemüse eindringen. Vom Marketing nach Kräften gefördert, mehrt sich die Minderheit der Obsessiven langsam, aber stetig. In ihren wohlinformierten Augen wandelt sich Alltägliches zu Besonderem.

Gegenüber den praktisch Orientierten finden sich – am anderen Ende des Spektrums - die Holzbegeisterten. Nicht nur das Material ist ihnen nicht egal, auch auf feinste Nuancen der Oberflächen und Farbtönungen, kombiniert mit spezieller Formgebung des Gegenstands, legen sie hohen Wert. 

Seit die Gesellschaft in immer mehr Kulturen zerfällt, die nebeneinander und auch gemischt koexistieren, hat auch das Holz seine möglichen Bedeutungen vervielfacht. Neue Moden, Trends, Ideologien und Marketingoffensiven vermehren kontinuierlich die Mythen und Zuschreibungen, mit denen hölzerne Dinge aufgeladen werden. 

Damit wird Holz zum Spiegel, in dem sich die jeweils aktuelle Gliederung der Gesellschaft in subkulturelle Milieus, Werte- und Glaubensgemeinschaften abbildet. Holz wird zum Medium und zur Sprache, die uns verschiedene Geschichten erzählt und erzählen lässt.

Zeige mir deinen Holz-Mix, und ich sage dir, wer du bist. Zwischen rustikalem Braun und Biedermeierfurnier tun sich kulturelle Abgründe auf. Fischgrät- oder Stabparkett, das ist die Frage, an der Liebe und Hass gegenüber der architektonischen Moderne sich scheiden. Eine hohe Zahl an Astlöchern in hellem Holz bemisst den Grad jener Bio-Gesinnung, die in den Achtziger Jahren Verbreitung fand. Ebenfalls unlackiert, jedoch ohne Astlöcher und in graubraun stumpfen Tönungen kommen jene Produkte daher, die dem Wellness-Kult seine hölzernen Formen der Anschaulichkeit geben.

Holz ist zum Wellness-Baustoff schlechthin geworden. Im Bezugssystem der Wellnessbewegung symbolisiert es „Natürlichkeit“ und „Gesundheit“. Dank dieser doppelten Zuschreibung fungiert Holz als tragende Säule der Ideologie, da es die vermeintliche Einheit der beiden Begriffe verkörpert. Für Wellness-Jünger gilt nämlich Gesundheit als natürlich und die Natur als gesund. Die Hohepriester gehen so weit, im Holz an und für sich ein Heilmittel des Leibes, des Geistes und der Seele zu sehen.

Auch wenn Krankheit ein Naturphänomen ist, dessen Heilung teils durch die Regenerationsfähigkeit des Organismus, teils durch menschliche Eingriffe erfolgt, stört doch das Realitätswidrige der Gleichsetzung von Natur und Gesundheit die Wellness-Gläubigen kaum. Schließlich ist es das Wesen jeder Heilslehre und Religion, Wunschvorstellungen den Vorrang gegenüber der Wirklichkeit einzuräumen. Und weil der Glaube Berge versetzt, wirkt schließlich auch der Holzglaube heilsam. Ist denn nicht alles wirklich, was wirkt?

Über jeden Zweifel erhaben ist die heilbringende Wirksamkeit des Wellness-Faktors auf die Holzmärkte. Das von der Lebensmittel-Industrie für die Verbreitung der Naturgesundheits-Esoterik eingesetzte Kapital kann nun mit wenig zusätzlichem Aufwand vom Holzmarketing lukriert werden. Der Imagetransfer gelingt umso besser, je genauer man versteht, wie der Wellnessgedanke funktioniert.

Einige wesentliche Unterschiede zum Naturbezug der Ökobewegung zeichnen die Wellnesswelt aus: In den 80ern wollte man auf Konsum und Ästhetik verzichten, um die Natur zu retten – die Ökos waren Altruisten. Die Wellnessbewegten sind Egoisten, ihr eigenes Wohlbefinden soll umfassend und mittels Konsum teurerer Waren und Dienstleistungen gesteigert werden. Nicht Rohes und Ungeformtes, sondern höchste Ästhetisierung und ein spezieller Design-Stil heben sie deutlich von allen Müslis und Schafzuchtträumern ab.

Was man früher eine „Schönheitsfarm“ nannte, ein Bade- und Kosmetikzentrum, wurde durch milde Beimischungen „fernöstlicher“ Esoterik zum Wellnesstempel weiter entwickelt. Hier unterzieht man sich Ritualen der Salbung, Reinigung und besänftigenden Hautberührung, um jene Spannungen abzubauen, die aus der alltäglichen Unvereinbarkeit von Zielen wie Fitness, Geld, Fairtrade, Erfolg, Umweltschonung, Schönheit, Askese, Genuss, Luxuskonsum, gutes Gewissen, Arbeitsleistung, Design, Kinderbetreuung, Schlankheit und Gesunderhaltung resultieren.

Die vielbeschworene Ganzheitlichkeit liegt in dem Versprechen, die Überforderung durch die Zerrissenheiten des urbanen Lebens abwaschen, abspannen und harmonisieren zu können, zwei Stunden oder auch mal ein Wochenende lang. Vor allem aber ist Wellness eines: ein Lifestyle, eine Designanforderung der „Healthstyle“-Zielgruppe an den Markenauftritt der Produzenten. Wer da mitgeht, hat Wellness in der Kasse.

Als diffuser (Mehr-) Wert in Form eines präzisen Designstils sickert der Wellnessfaktor in den Alltag ein. Immer mehr hölzerne Gebrauchsdinge lädt er auf mit quasireligiöser Bedeutung. Mit Wellness-Design erglänzt das Holz im Schein der neuen Werte.

Erschienen in: Zuschnitt, Magazin des Dachverbands der Holzindustrie proHolz
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