Freitag, 25. September 2015

Toiletten und Kulturen

Lokale Toilettenkulturen von der Antike bis ins Zeitalter der Globalisierung


Die historischen Innovationen von Toilettenanlagen ermöglichten neue kulturelle Praktiken im Umgang mit der Ausscheidung, Anhebung der Hygienestandards, Zivilisierung und Kultivierung privater wie öffentlicher WCs. Zugleich gilt das Umgekehrte: Der kulturelle Wandel hat einen bedeutenden Einfluss auf die technische Bauart und die Innovationsmöglichkeiten des Klosetts. Dies zeigt sich an den starken Unterschieden zwischen nationalen Toilettenkulturen im globalen Vergleich. Welche Perspektiven eröffnet die kulturelle Globalisierung für die Weiterentwicklung des WCs?


„Wir untersagen, stinkenden Unrat oder irgendwelche Flüssigkeiten auf die Straßen zu werfen oder zu schütten und in den Häusern längere Zeit Harn aufzubewahren. Wir ordnen an, dass alle Eigentümer von Häusern, Gasthäusern und Unterkünften, in denen es keine Abtrittgruben gibt, sofort, ohne Verzug und umgehend solche anlegen lassen!“ 



Die Geburt der Innentoilette fand 1539 statt. Der Erlass des französischen Königs Franz I. hatte weitreichende Folgen für die Hygienekultur Europas. Er markiert den Beginn der Tabuisierung des Kotes und in der Folge seine Besetzung mit Schamgefühl. Die Stadt roch nun besser, das verschob die Ekel- und Reizschwellen und gab erste Impulse zur Entwicklung höherer Hygienestandards. Dass heute WCs eine Selbstverständlichkeit sind, verdanken wir König Franz I. Er hätte es verdient, von der gesamten Sanitärbranche als ihr Heiliger gefeiert zu werden.

Die Verlagerung der Ausscheidung von der Öffentlichkeit ins Privathaus nannte der Kulturhistoriker Dominique Laporte in seiner „Gelehrten Geschichte der Scheiße“ eine „Domestizierung der Exkremente“: „Erst als Gegenstand der Politik wird die Scheiße zu einer Privatangelegenheit“ und zu einem intimen Objekt. Der öffentliche Raum konnte seine heutige Bedeutung erst gewinnen, nachdem er von Toilettenfunktionen bereinigt war. Heute werden die Ausscheidungen von Wasserspülungen rasch der Wahrnehmung entzogen.

Im Mittelalter und der Antike wurde gemeinschaftlich öffentlich defäkiert. „Sprachhus“ nannte man mittelhochdeutsch den Abtrittsort als Zentrum der gesellschaftlichen Konversation. Nicht anders ging es in den Latrinen der alten Römer zu, langen, mit mehreren Löchern versehenen Steinbänken, die sich in die Cloaca Maxima ergossen, das erste städtische Kanalisationssystem. Europa musste dann bis zur Industriellen Revolution warten, die zu einer Verstädterung führte, welche Kanalisation zur Abführung des anfallenden Abfallenden unausweichlich machte. Ebenso lange dauerte die Entwicklung des Klosetts mit Wasserspülung. Erst im Jahre 1851 wurde es auf der Great Exhibition in London vorgestellt. Verschließbare Klotüren kamen gar erst um 1900 in Mode.

Zivilisierung und Kultivierung von der Toilette her

In seiner „Geschichte der Zivilisation“ zeichnete der Soziologe Norbert Elias eine kontinuierliche Entwicklung zunehmender Zivilisierungen in Europa nach. Für ihn ist Zivilisation ein Prozess, in dem neben technischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt auch eine wachsende Differenzierung zu beobachten ist, die sich in veränderten Persönlichkeitsstrukturen niederschlägt: Weil die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Menschen zunehmen, ist mehr Selbstdisziplin, Affekt- und Selbstkontrolle nötig. Zurückhaltung wird zur Tugend. Diese zeigt sich im Vorrücken von Schamschwellen, Peinlichkeitsschwellen und Tabuisierung der Ausscheidung.

Die nur in Deutschland einst geläufige Unterscheidung von Kultur und Zivilisation wird heute nicht mehr getroffen. Zu sehr war „Zivilisation“ noch auf eine eurozentristische Abgrenzung von der „Barbarei“ gegründet, was eine abwertende Haltung gegenüber außereuropäischen Kulturen impliziert.

Auch Walter Hess formuliert in seinen „Nachdenklichen Absonderungen aus dem stillen Häuschen“ ein intimes Naheverhältnis von Kultur und Kloake: „Kulturgeschichte hat immer auch mit Exkrementen zu tun; wahrscheinlich kann man am Umgang mit ihnen von Grund auf lernen, was Kultur ist. Die ältesten Kaueraborte mit Fußplatten fand man in Babylonien über den Wasserläufen des Euphrat, einer ehemalige Hochkultur...“.

Basiert alle Kultur auf solch einer Kultur? Lässt sie sich als anthropologisches Abstoßungsprojekt, Überwindungsprojekt, Negationsprojekt, Verdrängungsprojekt der Ausscheidung erklären? Diese These ist selbstverständlich nicht nur pointiert, sondern speziell auf die europäisch verwurzelte Kulturtradition gemünzt und nur für diese treffend. Schon die Cloaca Maxima wurde oft als Beweis der „Kulturhöhe“ des alten Roms gelobt, ohne von einem Kulturwandel zur Tabuisierung motiviert worden zu sein.

Das Modell einer evolutionären Entwicklung zum „zivilisatorischen Fortschritt“, in dem sich die westliche Gesellschaft, Kultur und Technologie seit der bürgerlichen Epoche begreift, liegt auch der Psychologie zugrunde, wo diese sich des Themas der Exkremente annimmt. Gründervater Sigmund Freud ging von der Entwicklung des Kleinkindes zum Erwachsenen aus und maß dabei den frühesten Phasen die prägendste Bedeutung zu. In der Phase der Reinlichkeitserziehung werden wichtige Weichen zur Charakterbildung gestellt. Das Kleinkind lernt in diesem Konflikt mit der Mutter, dass es einen Wert zurückhalten oder hergeben kann. Dies wird als Initiation der ökonomischen Funktion der Ich-Grenze interpretiert, was in der psychoanalytischen Theorie zur Assoziation von Geld und Kot führte. Als Kind seiner Zeit definierte Freud Zivilisation als „Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung“.

Die kulturellen Unterschiede

Wer die Welt bereist hat weiß, wie verschiedenartig und gewöhnungsbedürftig die Toilettenanlagen in den einzelnen Ländern und Regionen sind. Auch heute, bei annähernd gleichen technischen Möglichkeiten, zeigen sich die Aborte von lokalen Kulturen geprägt. Im Islam spielen Waschungen eine bedeutende Rolle. Was den Körper verlässt, gilt ebenso als „unrein“ wie der Abort ein Unort ist. Der Körper wird mit Wasser und der linken Hand gereinigt, weshalb auch diese mit dem Attribut unrein besetzt ist und für manche Tätigkeiten keine Verwendung finden darf. Die Toiletten sind meist mit speziellen Wasserschläuchen ausgestattet, die dieses tradierte Reinigungsritual auch auf modernen WCs bequem ermöglichen.

Die aus Italien bekannte Hocktoilette, ein von flacher Keramik gefasstes Loch im Boden, ist nicht nur in Südeuropa, sondern auch in Asien und in islamischen Ländern verbreitet. Die amerikanische Klomuschel funktioniert grundlegend anders als die europäische. Der Wasserspiegel ist höher, die Ausspülung beginnt mit einer Strahlpumpe und endet mit einer Saughebe-Funktion. Diese Bauart lässt die Exkremente im Wasserstrudel schwimmend noch ein Weilchen betrachten, was von Medizinern als Vorteilhaft für die Frühdiagnose von Darmerkrankungen gelobt wird. Dieser Aspekt wird nur vom deutschen Flachspüler überboten.

Die nationale Eigenart der britischen Aborte erklärt die Autorin Elisabeth Hewson aus der traditionsreichen Ablehnung, die „Insel-Installateure“ generell der modernen Technik entgegenbringen: „Da liegen Abflussrohre außen, als gäbe es keinen Winter, „verschönen“ die Nassräume innerhalb des Hauses mit ihrem staubfangenden Durcheinander. Da tröpfelt oder schießt es unbestimmbar in Temperatur und Menge aus Brauseköpfen. Da muss man den richtigen Schwung heraus haben, um die Klospülung zum Rinnen zu bringen. Da gibt es Einhebel-Wasserhähne, die sich nur voll aufdrehen lassen, erst dann kann man die Temperatur einstellen. Oder andere, die sich sowohl drücken als auch drehen lassen, bis man weiß, wohin, ist man verbrüht oder erfroren. Gar nicht zu reden von den immer noch vorhandenen, weit auseinander liegenden, an die Waschmuschel gepressten (damit man ja nichts, einen Zahnputzbecher zum Beispiel, darunter stellen kann) separierten Heiß- und Kaltwasserhähnen.“

Auch auf die Frage, warum das so ist, weiß Hewson eine Antwort: „Die Briten waren die ersten. Die ersten mit Wasserklosett, mit heißem und kaltem Wasser in Badezimmer und Küche, mit Steckdosenerdung und Lift. Und seither wurde halt nichts verbessert, schon gar nicht, da Tradition ja etwas Heiliges hat im Land jenseits des Kanals. Und so sind sie heute die Letzten, nicht nur beim Waschkomfort...“

Toilettenstreit und „Nationalcharakter der Deutschen“

Die deutsche Toilette ist der Austragungsort eines Kulturkampfs: Seit den 1990er Jahren droht zunehmend der Tiefspüler den traditionellen Flachspüler aus seinem angestammten Häuschen zu vertreiben. Tertium non datur – als gäbe es keine dritte Möglichkeit, wird in deutschen Internetforen heftig über die Gewichtung der Nachteile beider den Markt beherrschenden Modelle debattiert. Die trockene Lexikonsprache von Wikipedia ist am besten geeignet, das Nassraumproblem in Worte zu fassen: „Bei einem WC-Flachspülbecken handelt es sich um ein Sitzklo, bei dem sich unter dem Gesäß des Benutzers eine Art Stufe befindet, auf die die Ausscheidungen fallen. Die Ausscheidungen verschwinden erst beim Spülen. Der größte Nachteil dieser Bauart ist die starke Geruchsentwicklung...“

Diesen Nachteil hat der traditionsbrechende Tiefspüler nicht – dafür einen anderen: „Die Ausscheidungen fallen in das Wasser eines Siphons, der sich unter dem Gesäß des Benutzers befindet. Dadurch ist die Geruchsentwicklung gering, weil das Wasser den Kontakt der Exkremente mit der Raumluft verhindert. Ein Nachteil gegenüber dem Flachspüler ist jedoch, dass das Wasser oft an das Gesäß hochspritzt.“

Will man lieber Gestank erdulden oder von unten mit Ausscheidungen und kaltem Wasser bespritzt werden? Diese Wahl fällt wahrlich schwer! Dabei ist längst eine WC-Muschel auf dem Markt, die beider Vorteile ohne die jeweiligen Nachteile zu lösen verspricht – das „Kaskaden-WC“. Ob es hält, was es verspricht, ist schwer herauszufinden, weil es so selten anzutreffen ist. Technische Lösungen sind eben nicht immer auch Lösungen für die Konsumenten – zumindest dann nicht, wenn diese in einen Kulturkampf verwickelt sind, in dem es ihnen ums Prinzipielle geht. Kriege jedweder Art führen zu erstaunlicher Opferbereitschaft auf beiden Seiten – auch wenn sie auf dem stillsten aller Örtchen ausgefochten werden. 



1985 wirbelte der Spiegel mit einem Bericht über den zwanghaft analen Nationalcharakter der Deutschen viel Dreck auf. Die Story basierte auf einer „wissenschaftlich ernst gemeinten“ Studie des Anthropologie-Professors Alan Dundes aus Berkeley: „Die Deutschen, berühmt für ihre Sauberkeit, sind analfixiert.“ Diese nicht eben schmeichelhafte These zur deutschen Volksseele begründet der Autor primär aus der Geschichte deutscher Literatur, in der er eine „skatologische Tradition“ ortet, die von Martin Luther über Grimmelshausen bis zu Günter Grass und Heinrich Böll reiche. Dieser Hang zur Analität werde durch die in Deutschland besonders früh und rigoros praktizierte „Reinlichkeitserziehung“ gefördert – „ein pädagogisches Trauma mit paradoxen Folgen“, das sowohl eine infantile Lust am Dreck und zugleich ein zwanghaftes Bedürfnis nach Sauberkeit hinterlasse. Die traditionelle Bindung der Deutschen an den Flachspüler, der es ja immerhin erlaubt, das eigene Produkt genau zu beäugen und einen narzisstischen Stolz dafür zu entwickeln, ließe sich mit Dundees Theorie gut, wenn nicht allzu gut, erklären.

Starker Tobak, nicht ohne 68er-Geruch, aber immerhin Reizstoff für hitzige Debatten. Vielleicht nur ein Mythos, aber einer, der mit seiner Verbreitung selbst zum nationalen Mythos wurde. Denn schon im linken Diskurs der 1970er Jahre war der Nationalsozialismus selbst in die symbolische Position des „braunen Drecks“ eingerückt. Konservativen wurde zugeschrieben, die wie Dreck anhaftende Schuld verdrängen zu wollen. Dagegen machte man die Fixierung des Blicks auf diese grausige Hinterlassenschaft zu einem Pflichtprogramm, das helfen sollte, gleiche Fehler nie wieder zu begehen. Damit hat der metaphorische Gegensatz von Dreck und Sauberkeit zwar die politischen Seiten gewechselt, durchzieht jedoch bis heute wie eine feine Duftspur den Diskurs über die nationale Identität.

Der Flachspüler, ein Wasserspiegel narzisstischer Selbstbeschau und zugleich Servierteller für das Dejekt als Objekt negativer Selbstrepräsentation, das man in einer theatralischen Inszenierung verwerfen und loswerden kann, ist außerhalb seines kulturhistorischen Kontexts nur schwer zu verstehen (wie ausländische Gäste in Deutschland immer wieder monieren). Zu aufgeladen ist er mit deutscher Geschichte und Mythologie, als dass man ihn umstandslos dem Eindringen internationaler Toilettenmodelle opfern würde. Sein Rückzugsgefecht könnte noch ein Weilchen dauern.


Verändert die Globalisierung die Toiletten der Zukunft?

Niemand kann die Zukunft wissen, aber man kann entweder bestehende Trends in die Zukunft verlängern oder die übergreifenden Veränderungen der Gesellschaft darauf hin befragen, ob mögliche Einflüsse auf einen bestimmten Gegenstand ausgemacht werden können. Dabei findet man Zukunftsthemen, die diskussionswürdig sind. Antworten zu finden bräuchte einen komplexen Prozess, der mit entsprechendem Aufwand verbunden ist.

Die Globalisierung ist fraglos einer der bedeutendsten Veränderungsprozesse der Gesellschaft auf allen Ebenen. Technologie, Information, Ökonomie und Medienkonsum haben nationale und kulturelle Grenzen längst überschritten. Auch die Menschen werden immer mobiler, ob im Business, im Tourismus oder als Ein- und Auswanderer. Die multikulturelle Gesellschaft nach dem Vorbild Amerikas ist immer weniger ein Debattenthema und immer mehr eine Realität. Demoskopen sagen, dass diese kulturelle Durchmischung weiter zunehmen wird.

Wenn die Anforderung an eine Toilette von nationalen Kulturtraditionen geprägt ist, kann man daraus folgern, dass ein wachsender Ausländeranteil gleichzusetzen ist mit dem Anteil der Menschen, denen die nationale Toilettenkultur Komplikationen und Anpassungsbemühungen zumutet. Wird es dazu kommen, dass Soundeinspiel-Geräte, die auf japanischen Damentoiletten zur Übertönung des Plätscherns als unverzichtbar gelten, auch in allen Europäischen Hotels und in den Bürohäusern internationaler Unternehmen zum Mindeststandard gehören? Oder wird im Gegenteil die Globalisierung als Gegenreaktion eine stärkere Betonung regionaler Traditionen auf den Plan rufen, wie dies in der Esskultur zu beobachten war und ist?

Ebenso unbeantwortbar ist heute noch die Frage, wie sich die Globalisierung auf die weitere Karriere des 1962 in der Schweiz erfundenen Dusch-WCs auswirken wird. Denn einerseits hätte es aus technischer Sicht das Zeug, die Bedürfnisse mehrere Kulturen in eine Einrichtung zu integrieren. Blickt man jedoch auf die kulturelle und ökonomische Struktur der Zuwanderer Europas, wird diese high-tech Lösung wohl noch lange zu teuer sein und damit an der Zielgruppe vorbei gehen. Auch die kulturelle Dynamik kann in die eine oder andere Richtung gehen. Integrierende Kräfte stehen Impulsen der Regionalisierung, Ghettobildung und Re-Nationalisierung gegenüber. Aus welchen Toiletten-Modellen die einzelnen Zielgruppen ihre Distinktionsgewinne ziehen wollen, wird sich erst in einem langen und chaotischen Prozess herauskristallisieren, dessen Ergebnis dann immer noch von höchster Komplexität und Multikulturalität charakterisiert sein kann.

Dusch-WCs haben in ihrem Ursprungsland Schweiz, wo auch der Marktführer Geberit beheimatet ist, einen Marktanteil von 10%, in Japan 80% und in Deutschland 1%. Am technischen Funktionieren können diese Unterschiede der Akzeptanz nicht liegen. Ob die japanische Kultur die Duschfunktion so liebt, weil man an sie die Schuld am peinlichen Wassergeräusch delegieren kann, wurde noch nicht erhoben. Immerhin ahnen wir jetzt, warum die Deutschen so wenig Begeisterung für die Springbrunnen des Aborts aufbringen.


Links:
http://oe1.orf.at/artikel/285701
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13492723.html