Dienstag, 7. April 2015

Die Marke Ytong. Eine Liebesgeschichte.


Meine Wiederbegegnung fand auf einer Baustelle statt. Im Vorbeigehen erblickte ich ein Gelb, das mir Kindheitserinnerungen in den Kopf und ein Lächeln ins Gesicht zauberte: Ytong! Meine Erstbegegnung fand 1970 statt, als der Nachbar das erste Haus im Dorf aus Ytong-Steinen baute. Man muss sich in den Geist und die Ästhetik der 70er Jahre zurück versetzen, um die Faszination zu verstehen, die von dem neuen Baustoff ausging. Damals war der Fortschrittsglaube noch unversehrt, alles Traditionelle und Natürliche lehnte man ab, während das Künstliche, Technische und Chemische die Menschen in Euphorie versetzte.



Sowohl in der Architektur wie auch im Design waren Formen, die nicht zusammengesetzt, sondern fugenlos homogen wie aus einem Guss erschienen, groß in Mode. Sie symbolisierten das Ideal einer grenzenlosen Machbarkeit, die sich sogar von allen menschlichen Mühen des Zusammenstellens und Erarbeitens lösen wollte. Alle modernen Dinge sollten aussehen, als kämen sie aus einer Zukunft, in der allein der Gedanke des Designers genügte, um eine Form in Materie umzugießen. Die Dingwelt des Plastikzeitalters wollte den Eindruck erwecken, sie sei aus einer göttlichen Glückspastatube hervorgequetscht.



In diesem Kontext sah der gute alte Backstein ziemlich altbacken aus. Ytong hingegen verkörperte alle Ideale der Zeit: Fugenlosigkeit, zumindest annähernd. Homogenität in sich. Anti-Traditionalität und Künstlichkeit in der Farbe Weiß. Technizität in der abstrakten Geometrisierung. Chemie im damals modisch knalligen Gelb der Verpackung. Damit war jedem Kind der 70er Jahre beim ersten Anblick klar, dass Ytong ein Name für Modernität und Fortschritt ist. Der Buchstabe Ypsilon, der sich von einer dänischen Stadt ableitet, passte perfekt zur Ästhetik: da er im Deutschen als Anfangsbuchstabe eines Worts oder Namens kaum vorkommt, vermittelte er sofort den Traditionsbruch und das radikal Neue.




Der damalige Design-Kontext lässt sich am besten am Beispiel Luigi Colani illustrieren, der in seinem 1973 erschienenen Buch „YLEM“ eine komplette Zukunftswelt entwarf, in der alles zwischen Teekanne und Wolkenkratzer aus einem weißen homogenen Material unbekannter Herkunft zu bestehen schien. Mit seiner radikalen Design-Utopie ging er so weit, sogar die Menschenkörper umzuformen. Ausgehend von der Annahme, dass die Zukunftsmenschen weniger körperlich und mehr geistig arbeiten und die mit dem Produktivitätszuwachs gewonnene große Freizeitmenge für Lust und Sex verwenden würden, zeichnete er hochgewachsene dürre Körper mit überdimensionierten Köpfen und Geschlechtsorganen. YLEM war der Versuch, Darwinismus und Machbarkeitsglauben im Plastik-Guss zu verschmelzen. YTONG projizierte die Qualitäten des Plastik, Homogenität und modische Knallfarben, in die Welt des Baumaterials.



Als ich im Freundeskreis fragte, welche Assoziationen das Stichwort Ytong weckt, wurde mein erster Eindruck bestätigt: Die ersten drei Befragten antworteten sinngemäß mit „das war doch so ein 70er-Jahre-Ding...“ Der vierte vermutete ein Material für Innen- und Trockenbau.

Das Thema begann mich zu interessieren. Wie kam es, dass nach einem Start, der alle Zukunft versprach, bis heute weiterhin überwiegend mit Ziegeln gebaut wird? Markenstrategisch betrachtet, befindet sich Ytong in einer ambivalenten Situation. Misstrauen, ob man mit leichten und porösen  Quadern wirklich komplette mehrstöckige Gebäude bauen kann, steht extrem hoher Markenbekanntheit und emotional positiver Erinnerung gegenüber.



Wie könnte Ytong es schaffen, den Ziegel zu einem zweiten Wettkampf herauszufordern? Im Xella-Konzern steht Ytong neben etlichen anderen spezialisierten Marken. Sie ist die populärste und wäre damit gut geeignet, sich auf den Endverbraucher zu beschränken und diesem nur noch anzubieten, was er ihr zutraut und was sich nachvollziehbar und plausibel kommunizieren lässt: die Innenwand. Anstatt den Markt von der eigenen Sicht, Ytong sei der beste Baustoff für große Siedlungen, überzeugen zu wollen, wäre es weniger anstrengend, sich der gewachsenen Erwartung des Konsumenten zu fügen, um die uralte Liebesbeziehung zur Marke wieder aufleben zu lassen. Dies wäre für die Marke eine Strategie der Resonanz, des harmonischen Mitschwingens und der Wiederherstellung einer ungetrübten Beziehung mit dem Kunden von heute. Dieser ist nämlich mit dem Erfolgsrezept der 1970er Jahre nicht mehr erreichbar. Er lehnt es sogar ab, seit technischer Fortschritt weniger wiegt als „Natürlichkeit“, was auch immer das sei. Der Ziegel hat in der kulturellen Wahrnehmung 3000 Jahre Vorsprung dort, wo es um die Metapher des verlässlichen äußeren Schutzes, also der Außenmauer geht. Seine althergebrachte Authentizität lässt ihn als gewachsen und damit gleichsam näher dem Natürlichen erscheinen. Egal, wie gut Porenbeton aus funktionaler Sicht gleiches leistet, wird er auf sinnbildlicher Ebene vom Ewigkeit versprechenden Ziegel stets abgehängt werden. Anders bei Innenwänden, von denen eine dynamisierte Patchwork-Gesellschaft weniger Festigkeit, dafür aber mehr Veränderbarkeit verlangt. Die 70er-Jahre-Wurzeln hätten das Potential, im aktuellen Retro-Look kommuniziert eine sympathische Assoziation mit dem Wohnstil  zu knüpfen.




Gegen den Ziegel mit Messwerten zu argumentieren, ist zwar notwendig, erreicht die Herzen der Konsumenten jedoch nicht.  So individuell deren Sehnsüchte auch empfunden werden, bleiben sie doch geprägt von ihrer Geschichte und Kultur.