Meine Wiederbegegnung fand auf einer Baustelle statt. Im
Vorbeigehen erblickte ich ein Gelb, das mir Kindheitserinnerungen in den Kopf
und ein Lächeln ins Gesicht zauberte: Ytong! Meine Erstbegegnung fand 1970
statt, als der Nachbar das erste Haus im Dorf aus Ytong-Steinen baute. Man muss
sich in den Geist und die Ästhetik der 70er Jahre zurück versetzen, um die
Faszination zu verstehen, die von dem neuen Baustoff ausging. Damals war der
Fortschrittsglaube noch unversehrt, alles Traditionelle und Natürliche lehnte
man ab, während das Künstliche, Technische und Chemische die Menschen in
Euphorie versetzte.
Sowohl in der Architektur wie auch im
Design waren Formen, die nicht zusammengesetzt, sondern fugenlos homogen wie
aus einem Guss erschienen, groß in Mode. Sie symbolisierten das Ideal einer
grenzenlosen Machbarkeit, die sich sogar von allen menschlichen Mühen des
Zusammenstellens und Erarbeitens lösen wollte. Alle modernen Dinge sollten
aussehen, als kämen sie aus einer Zukunft, in der allein der Gedanke des
Designers genügte, um eine Form in Materie umzugießen. Die Dingwelt des
Plastikzeitalters wollte den Eindruck erwecken, sie sei aus einer göttlichen
Glückspastatube hervorgequetscht.
In diesem Kontext sah der gute alte
Backstein ziemlich altbacken aus. Ytong hingegen verkörperte alle Ideale der
Zeit: Fugenlosigkeit, zumindest annähernd. Homogenität in sich. Anti-Traditionalität
und Künstlichkeit in der Farbe Weiß. Technizität in der abstrakten
Geometrisierung. Chemie im damals modisch knalligen Gelb der Verpackung. Damit
war jedem Kind der 70er Jahre beim ersten Anblick klar, dass Ytong ein Name für
Modernität und Fortschritt ist. Der Buchstabe Ypsilon, der sich von einer
dänischen Stadt ableitet, passte perfekt zur Ästhetik: da er im Deutschen als
Anfangsbuchstabe eines Worts oder Namens kaum vorkommt, vermittelte er sofort
den Traditionsbruch und das radikal Neue.
Der damalige Design-Kontext lässt sich am
besten am Beispiel Luigi Colani illustrieren, der in seinem 1973 erschienenen
Buch „YLEM“ eine komplette Zukunftswelt entwarf, in der alles zwischen Teekanne
und Wolkenkratzer aus einem weißen homogenen Material unbekannter Herkunft zu
bestehen schien. Mit seiner radikalen Design-Utopie ging er so weit, sogar die
Menschenkörper umzuformen. Ausgehend von der Annahme, dass die Zukunftsmenschen
weniger körperlich und mehr geistig arbeiten und die mit dem
Produktivitätszuwachs gewonnene große Freizeitmenge für Lust und Sex verwenden
würden, zeichnete er hochgewachsene dürre Körper mit überdimensionierten Köpfen
und Geschlechtsorganen. YLEM war der Versuch, Darwinismus und
Machbarkeitsglauben im Plastik-Guss zu verschmelzen. YTONG projizierte die
Qualitäten des Plastik, Homogenität und modische Knallfarben, in die Welt des
Baumaterials.
Als ich im Freundeskreis fragte, welche
Assoziationen das Stichwort Ytong weckt, wurde mein erster Eindruck bestätigt:
Die ersten drei Befragten antworteten sinngemäß mit „das war doch so ein
70er-Jahre-Ding...“ Der vierte vermutete ein Material für Innen-
und Trockenbau.
Das Thema begann mich zu interessieren.
Wie kam es, dass nach einem Start, der alle Zukunft versprach, bis heute
weiterhin überwiegend mit Ziegeln gebaut wird? Markenstrategisch betrachtet,
befindet sich Ytong in einer ambivalenten Situation. Misstrauen, ob man mit
leichten und porösen Quadern wirklich
komplette mehrstöckige Gebäude bauen kann, steht extrem hoher Markenbekanntheit
und emotional positiver Erinnerung gegenüber.
Wie könnte Ytong es schaffen, den Ziegel
zu einem zweiten Wettkampf herauszufordern? Im Xella-Konzern steht Ytong neben
etlichen anderen spezialisierten Marken. Sie ist die populärste und wäre damit
gut geeignet, sich auf den Endverbraucher zu beschränken und diesem nur noch anzubieten,
was er ihr zutraut und was sich nachvollziehbar und plausibel kommunizieren
lässt: die Innenwand. Anstatt den Markt von der eigenen Sicht, Ytong sei der
beste Baustoff für große Siedlungen, überzeugen zu wollen, wäre es weniger
anstrengend, sich der gewachsenen Erwartung des Konsumenten zu fügen, um die uralte
Liebesbeziehung zur Marke wieder aufleben zu lassen. Dies wäre für die Marke
eine Strategie der Resonanz, des harmonischen Mitschwingens und der
Wiederherstellung einer ungetrübten Beziehung mit dem Kunden von heute. Dieser
ist nämlich mit dem Erfolgsrezept der 1970er Jahre nicht mehr erreichbar. Er
lehnt es sogar ab, seit technischer Fortschritt weniger wiegt als
„Natürlichkeit“, was auch immer das sei. Der Ziegel hat in der kulturellen
Wahrnehmung 3000 Jahre Vorsprung dort, wo es um die Metapher des verlässlichen
äußeren Schutzes, also der Außenmauer geht. Seine althergebrachte Authentizität
lässt ihn als gewachsen und damit gleichsam näher dem Natürlichen erscheinen. Egal,
wie gut Porenbeton aus funktionaler Sicht gleiches leistet, wird er auf
sinnbildlicher Ebene vom Ewigkeit versprechenden Ziegel stets abgehängt werden.
Anders bei Innenwänden, von denen eine dynamisierte Patchwork-Gesellschaft
weniger Festigkeit, dafür aber mehr Veränderbarkeit verlangt. Die 70er-Jahre-Wurzeln
hätten das Potential, im aktuellen Retro-Look kommuniziert eine sympathische
Assoziation mit dem Wohnstil zu knüpfen.
Gegen den Ziegel mit Messwerten zu
argumentieren, ist zwar notwendig, erreicht die Herzen der Konsumenten jedoch
nicht. So individuell deren Sehnsüchte
auch empfunden werden, bleiben sie doch geprägt von ihrer Geschichte und
Kultur.