Sonntag, 26. Oktober 2014

Trotz Müllproblem lieben und kaufen wir Plastik. Warum?

Sauber, abwaschbar und geschmeidig: So hat uns Plastik um den Verstand gebracht. Und selbst in Zeiten zunehmender Müllberge hat die Faszination nicht nachgelassen. Warum greifen wir beim Plastik immer noch so gerne zu? Zu dieser Frage führte Hans-Hermann Kotte mit mir ein Interview für die Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung:




Herr Pauser, Plastik entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Motor der Konsumgesellschaft. Später wurde es zum Symbol der Überflussgesellschaft und der Wegwerfkultur. Was macht Plastik bis heute so verführerisch? 

Plastik war neu, billig und machte Spaß. In den 1950er-Jahren eroberte es Haushalt und Kleiderschrank und ermöglichte es, einen neuen kleinen Reichtum nach Krieg und Mangeljahren zu empfinden. Andere Materialien waren teurer, kostbarer, schwerer verfügbar. Dinge aus Plastik waren etwas, das sich jeder leisten konnte, so billig, dass man sie auch wegwerfen konnte. Die 1968er-Generation, selbst gesättigt, konnte dann dem Mangel im Überfluss nachspüren – und wertete Konsum und Massenprodukte ab.

Worin genau besteht die Verführungskraft des Kunststoffs?

Plastik hat eine Idee auf den Punkt gebracht, nämlich die einer universalen Machbarkeit und Gestaltbarkeit im Zuge der fortschreitenden industriellen Revolution und der technologischen Weiterentwicklung. Plastik als Universalstoff, aus dem man gleichsam alles machen kann. Die privatisierte Version dieser universalen Herstellbarkeit sind die heutigen 3D-Drucker. Sie erneuern das Versprechen des Plastikzeitalters, nicht in Massenproduktion, sondern dezentral.

Schon das Wort Plastik scheint einen Zauber zu besitzen. Wieso?

Plastik, das ist auch ein Wort aus der Bildhauerei. Es wird unterschieden zwischen der Skulptur, also dem, was aus einem Stein- oder Holzblock herausgehackt wird, und der Plastik. Eine Plastik entsteht, wenn aus einem Stoff eine neue Form aufgebaut wird. Der Begriff Plastizität beschreibt die Eigenschaften einer weichen, formbaren Materie. Das Plastik ist so eine Materie, eine, die für die Formbarkeit geschaffen wurde. Geschaffen für den menschlichen Verwendungszweck, was Naturmaterialien ja nicht sind. Material und Form gingen beim Plastik eine bis dahin unerreichte Synthese ein.

Ein Stoff, aus dem die Träume sind?

Der Traum vom Plastik ist, dass eine Idee, ein Wunsch realisiert werden kann, ohne dass es eine Differenz gibt zwischen Realität und Wunschbild. Plastik als vollkommener, reiner Stoff, der eine Herstellung ohne diesen Rest erlaubt. Das ist die metaphysische Dimension des Plastiks: Plastik bringt den Menschen in eine Art göttliche, magische Position. Die Restlosigkeit spielt auch in einem unmittelbareren Sinne eine Rolle: Bei der Herstellung von Plastik wird nicht gehauen oder geschnitzt, nicht gesägt oder gefräst, sondern gegossen.

Die Welt nach den eigenen Wünschen formen.

 Plastik bringt den Menschen in eine göttliche 

Position – sogar im Badezimmer.


Plastik – eine saubere Sache? Klingt absurd angesichts der Plastikmüllberge.

Ja, die Restlosigkeit ist eng mit der Schmutzfrage verbunden. Schmutz ist die kleinteilige Materie, die wir als negativ bewerten. Und im menschlichen Leben gibt es ja immer einen Rest, es gibt kein spurenfreies Leben. Das Versprechen des Plastiks war es aber, dass man auf Erden quasi ohne Spur, ohne Rest, ohne Schmutz, ohne Abfall leben könnte. Hinzu kommt, dass Plastik leichter zu reinigen ist als andere Materialien – Plastik hat also eine Art Totalisierung der Idee der Reinheit versprochen. Diese Idee ist religiösen Ursprungs, älter als die Entdeckung der modernen Hygiene. Heute ist das ins Negative gekippt, weil Plastik für Müll steht. Plastik führt uns die Unmöglichkeit der Utopie des rückstandsfreien Lebens und des mangelfreien Seins vor. Plastik ist in die Position des Schmutzes eingerückt, den zu verdrängen es anfangs versprochen hat.

Verführt Plastik trotzdem noch?

Psychologisch betrachtet ist es so, dass Plastikobjekte deshalb zur Identifikation einladen, weil sie an das Phantasma des perfekten, geschlossenen Körpers andocken, des Körpers, dem nichts fehlt. Ohne Lücke, ohne Riss, ohne Überschuss, ohne Schmutz. Deutlicher formuliert: keine Körperöffnungen, keine Scheiße.

Plastik hilft uns bei der Verdrängung?

Ein sehr alltägliches Beispiel sind die in Folie eingeschweißten und designmäßig optimierten Lebensmittel im Supermarkt: unversehrte Objekte, ohne Spuren des Prozesshaften des Lebens, die uns an die eigene Vergänglichkeit erinnern könnten. Auf den Plastikverpackungen der Lebensmittel finden sich übrigens meist Bilder der Natur, und auch auf der Ebene der Schrift wird Natur heraufbeschworen. Plastik als Trägermaterial für Naturversprechen.

Hat das Künstliche, das dem Plastik zu eigen ist, einen besonderen Reiz?

Je genauer man das Begriffspaar „künstlich/natürlich“ reflektiert, desto mehr löst es sich auf. Es existiert einerseits auf der Welt nichts, was nicht aus der Natur kommt; andererseits gibt es auf diesem Planeten nichts, was nicht schon vom Menschen verwandelt wurde. Künstlich, natürlich – das sind ideologische, kulturelle Zuweisungen, ja Kampfbegriffe. Interessant aber war das Comeback des Plastiks nach der „Jute statt Plastik“-Phase Ende der 1970er-Jahre ...

Wir verdrängen das echte Leben mit 

perfekt verpackten Produkten – 

aber als Schmutz kehrt es zu uns zurück.


Plastik als Retroschick?

... es kam zurück in der Zeit des New Wave und dann des Techno, einerseits als nostalgisch-ironische Reminiszenz an die Nachkriegsboomphase, andererseits als demonstrative Abwendung von der 1968er-Generation und den Ökos. Eine dauerhafte Renaissance feiert Kunststoff übrigens beim Outdoor-Sport und beim Trekking: Wenn es in die wilde Natur geht, kann die Kleidung und Ausrüstung gar nicht hightech genug sein. Da ist Kunststoff mit der Naturgesinnung vereinbar und aufgeladen.

Längst ist Plastik allgegenwärtig. Wir sind abhängig geworden, und nach dem Konsumrausch kommt der Kater: wachsende Müllberge an Land, riesige Müllstrudel in den Meeren, Schadstoffe in den Nahrungsketten von Tier und Mensch. Wie gehen wir damit um, dass Plastik nun für Kontrollverlust, Schmutz und Krankheit, letztlich Tod steht?

Man könnte es die Wiederkehr des Verdrängten nennen, nämlich des verdrängten Schmutzes. Diese Entwicklung erzeugt Ambivalenz im Verhältnis zum Plastik. Und sie schafft gesellschaftliche Konflikte. Ein Ausweg soll das Recycling sein. Ironischerweise ist das eine Neuauflage derselben Phantasmatik, die zum Siegeszug des Plastiks geführt hat. Denn um den Traum vom rückstandsfreien Leben geht es auch beim Recycling. Sämtliche menschlichen Rückstände sollen in Form frisch gepresster Waren wiederkehren. Der Mensch soll sein Heil durch die Aufzehrung seines eigenen Abfalls erreichen.

Was früher „Jute statt Plastik“ war, das ist heute der Plastic Bag Free Day, der Internationale Tag ohne Tüte. Doch lässt sich mit dem Aufruf zum Verzicht wirklich etwas ausrichten?

Das größte Problem bei der Abschaffung der Tüte ist, dass das Shoppen erfunden wurde. Das ist im Gegensatz zum Einkaufen nicht zielgerichtet – und man würde dafür auch keinen Einkaufsbeutel oder eine große Tasche mitnehmen. Shoppen ist mehr ein Flanieren, eine Freizeitbeschäftigung. Beim Shoppen will man zu einem sogenannten Impulskauf verführt werden, es geht darum, Wünschen zu begegnen, Wünsche zu erwecken und zu verspüren. Für den Impulskauf kann ich mir keine Tasche mitnehmen, die Tüte muss in der Sekunde des unerwarteten Impulses verfügbar sein. 

Erschienen im Themenheft "Plastik" des Magazins Fluter der Bundeszentrale für politische Bildung, wo viele weiter führende Artikel zum Themenfeld Kunststoff und dessen Müll-Problematik zu lesen sind: Plastik