Kaum jemand leugnet heute noch, dass kultureller Wandel und kulturelle Werte auf die Entstehung wie auf den Erfolg technischer Innovationen großen Einfluss haben. Dennoch gehört es zu unserer kulturellen Tradition, technische Rationalität und kulturelle Entwicklungslogik getrennt zu betrachten. Zwei Diskurse laufen parallel, Brückenschläge sind selten und dann oftmals naiver als die veranschlagte Kompetenz im je eigenen Fach. Technologie und Kulturwissenschaften sind Parallel-Universen. Ihre Diskurse sind kaum anschlussfähig, weil die dahinter liegenden Modelle und deren Grundbegriffe, vor allem aber der „Rationalitätstyp“ unvermittelt bleiben. Besonders die technische Rationalität neigt zur Selbstisolierung, nicht selten zur Selbstbegründung. Was nicht materiell und realistisch, mathematisierbar und kausallogisch oder gar in einem linear funktionalistischen Mittel-Zweck-Modell nicht denkbar ist, wird als „Randbedingung“ externalisiert, oft sogar als „irrational“ oder „soft factor“ eingestuft. In einer entwickelten Konsumgesellschaft jedoch ist das Modell des „homo rationale“ für die Nachfrage als Randphänomen einzustufen, während die „weichen Faktoren“ dominieren und spätestens dann ihre Weichheit verlieren, wenn die Verkaufsergebnisse in harten Zahlen auf dem Tische liegen.
Die Entstehungsgeschichte der Melitta-Filtertüte wird stets funktionalistisch erzählt. Hausfrau Melitta Bentz fühlte sich vor etwas mehr als 100 Jahren beim Kaffeekränzchen gestört von braunen Krümeln, die den damals üblichen Sieben durchs Netz gingen und sich statt dessen zwischen den Zähnen verfingen. Sie erkannte darin ein Problem und sann nach einer technischen Lösung. Durchlöcherte mit dem Nagel eine alte Konservenbüchse und entnahm dem Schulheft ihres Sprösslings ein Löschblatt, um damit den Kaffeesatz feinmaschiger von der Brühe zu scheiden. So ward die Filtertüte® erfunden! Der Rest ist Geschichte, das Ergebnis ein großer Konzern.
Doch wenn ein Funktionsvorteil das Erfolgsgeheimnis von Melitta ist, bleiben zwei Fragen rätselhaft: Warum gilt Melitta-Kaffee als Inbegriff der Kultur Deutschlands? Und warum hält er in seiner Heimat trotz neuer Konkurrenz durch Espresso und Nespresso noch 70% Marktanteil, obwohl ihm nachgesagt wird, von „lauwarmem geschmacklosem Abwaschwasser“ nicht in hinreichendem Maße unterscheidbar zu sein?
Die lokalkulturelle Aufgeladenheit des Filterkaffees wurde mir an einer Beobachtung deutlich, die ich in Italien im Schaufenster einer Espresso-Bar machen konnte. Um deutsche Touristen anzulocken, versprach ein Plakat „echte Deutsch-Káffe!“. Darunter hatte der Wirt zur Illustration etwas gebastelt, was den für amerikanische Longdrinks üblichen Papier-Sonnen-Schirmchen nachempfunden war: Aus einer auffallend großen Tasse ragte eine dünne hölzerne Stange, auf der die Mini-Version einer Filtertüte angebracht war, wie ein umgekehrter Sonnenschirm. Diese Standarte sollte die Authentizität der in den Süden transferierten Deutschen Kaffee-Filtrier-Kultur verkünden und gleichsam evident werden lassen.
Die Außenperspektive vom Süden her auf die nördliche protestantische Kultur hebt jenen Schritt des Kaffeemachens als Symbol hervor und gleichsam auf die Fahne, der in der Melitta Technik die zentrale Rolle spielt: das Trennen vom Sud. Der Vorzeige-Filter bietet sich an als Nationalsymbol, weil er für die klischeehaften Zuschreibungen des „Typisch Deutschen“ bestens geeignet ist. Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Regelbefolgung, knausrige Geldorientierung, Pingeligkeit, moralistische Strenge gegen sich selbst wie gegen andere, Zwanghaftigkeit und vor allem Reinlichkeit, die ganze Palette an Vorurteilen, die im Rest der Welt über die Deutschen kursieren, lassen sich im Symbol des Filter-Fähnchens verdichten. Es hält dem Deutschen Reinheitsgebot im schmutzigen Süden die Stange.
Katholischer versus Protestantischer Kaffee
Religionssoziologisch relevant ist für die Herausbildung dieses Sets von Typizitäten der Unterschied zwischen der katholischen Kultur des Südens, in der Sünden über den Weg der Beichte verzeihbar sind, und der protestantischen Kultur, die Moral an Vernunft koppelt und damit nicht nur Verzeihung, sondern auch jede Relativierung einer Bewertung unmöglich macht. Im Norden wird alles ernst genommen, es werden scharfe Trennlinien gezogen, Richtig und Falsch werden streng unterschieden.
Zitat aus dem Blog breigh.com
Technikbedienung als Geste
Jeder technische Apparat zwingt den Menschen, der ihn bedient, zu bestimmten Bewegungen und Handlungen. Bei der Hebel-Espressomaschine steht die Lust an einer Geste maskuliner Effektivität im Vordergrund. Wo beim Automaten ein mechanischer Druckknopf durch einen Touchscreen (ohne Funktionsvorteil) ersetzt wird, genießt man am Zwang zur feinmechanischeren Fingerbewegung den metaphorischen Zusammenhang von Körperentlastung, Informatisierung, Verfeinerung, Affinität zum Digitalen und die modische Nähe zum iPhone.
Am schlechten Geschmack lässt sich beweisen und der Beweis genießen, ein guter Mensch zu sein. Wie anders wäre erklärbar, dass man in jeder größeren Stadt der Welt italienisch, französisch, türkisch, griechisch, russisch, thailändisch, vietnamesisch, japanisch, mexikanisch, amerikanisch oder auch südkreolisch essen gehen kann, während die „Deutsche Küche“ unbekannt ist? Doch die Verpönung der Geschmacksdimension geht noch weiter. Ein Reisender, welcher in Deutschland wie in jedem anderen Land seine Gastgeber darum bittet, die lokale Küche kennenlernen zu dürfen und in ein Deutsches Restaurant zu gehen, wird auf ahnungslose und erstaunte Gesichter treffen. „Ja, so was gibt es schon irgend wo, hab ich mal gehört, kenne ich aber nicht näher…“ Somit ist die deutsche Bevölkerung die weltweit einzige, der ihre eigene Küche unbekannt ist, während sie selbst an ihrer Vorliebe für schlechten Kaffee von außen jederzeit eindeutig identifizierbar ist.
Dass es eine deutsche Hausfrau war, deren Wunsch an den Kaffee nicht etwa auf eine Verbesserung des Geschmacks, sondern auf eine inszenierte Säuberung zielte, erscheint im kulturhistorischen Rückblick auf 100 Jahre Deutsches Kaffeekränzchen in einem neuen Licht. Die Erfindung von Melitta Bentz ist eine Medaille mit zwei Seiten: die Verbesserung der Funktion lässt sich vom Wunsch, der die Funktion erst zu einer Funktion im Dienst der Wunscherfüllung macht, nicht trennen. Das trifft nicht nur zu bei Melitta – das gilt für jede „funktionale“ Produktentwicklung.