Freitag, 26. Dezember 2014

Merci. Dank als Marke und Produkt

Geschenke haben ein Problem mit der Reziprozität. Sie müssen sich vom Warentausch unterscheiden. Obwohl man einander wechselseitig etwas schenkt, muss das Schenken etwas anderes sein als das Austauschen. Der Heilige Abend muss sich irgendwie abheben von einer Tauschbörse für überflüssige Waren. 

Das Geschenk ist definiert als ein Gut, das getauscht wird in einem Ritual, das dementieren muss, dass getauscht wird. Wird eine Ware als Geschenk eingesetzt, muss sie den Anschein erwecken, einseitig und ohne künftige Erwiderung gegeben zu werden. Schenkende und Beschenkte verabreden sich zur gemeinsamen Illusion, die Austauschverhältnisse sozialer Beziehungen durch einen Ausnahmenfall zu durchbrechen. Sie unterwerfen sich der Utopie einseitiger Hingebung und lassen dabei ein Stück Kindheit wieder auferstehen. Denn nur in der frühen Kindheit gibt es real und notwendiger Weise die Gabe ohne Gegengabe. Schenkende Erwachsene schenken einander im rituellen Tauschdementi einen Moment der Regression in die kindliche Rolle des einseitig Beschenkten.

Wer ein Weihnachtsgeschenk aussucht, befindet sich daher in einem Dilemma. Ist das Geschenk allzu nützlich, wie etwa ein paar Socken, bleibt es in der Sphäre der Tauschökonomie. Ist es hingegen absolut unbrauchbar, wird es für den Beschenkten wertlos sein. Wer schenkt, muss sich daher stets bemühen, einen Kompromiss zwischen Brauchbarkeit und Nutzlosigkeit zu finden. Viele versuchen dieser paradoxen Aufgabenstellung zu entkommen, indem sie Gutscheine oder Geld im Kuvert verschenken. Das Kuvert ist die schwächste Form, einen Tauschakt mit einer unterbrechenden Zwischenstufe zu dementieren. Die Funktion aufwendiger Verpackung ist weniger die Verzögerung zur Steigerung der Vorfreude, sondern die Verdeckung des Betriebsgeheimnisses, dass jedes Schenken ein dementiertes Tauschen ist.



Neben dem Verpacken ist das Danksagen das zweit wichtigste Medium für das Tauschdementi. Wer beim Erhalt eines Geschenks „danke“ sagt, formuliert damit eine rein symbolische Gegengabe, die bekräftigt, dass das Paket im Geiste der Einseitigkeit empfangen wurde. Die Abstattung des Dankes stellt einen fiktionalen Ausgleich der ökonomischen Asymmetrie her – dabei wird kundgetan, dass damit der Austausch schon abgeschlossen ist, obwohl keine physische Gegengabe erfolgt ist. Der Vollzug dieses Rituals wird nicht davon gestört, dass eine Minute später die Gegengabe im gleichen Dementi-Modus erfolgt.

Das Schokoladenprodukt „Merci“ löst die Verpflichtung des Geschenks, den Tausch zu dementieren, mit seinem Namen und dem geschenkmäßigen Verpackungsdesign. Indem die Gabe selber schon vorweg die Rückerstattung des Dankes in sich auf nimmt und vorweg nimmt, hilft sie dem Schenkenden beim Inszenieren einer fiktiven Unterbrechung der Tauschkette. Das Schenkritual, in dessen Kontext andere Güter sich allererst in dementierte Tauschgüter, in Geschenke verwandeln, wird vom Produkt gleich mit geliefert. Anders als Socken in Weihnachtspapier ist Merci schon von vornherein ein Geschenk. Als materialisiertes Tauschdementi zwingt es den Schenkenden wie den Beschenkten auf eine höhere Ebene der Entmaterialisierung des Warentausches: Ein Dank wird geschenkt und ein Dank wird erwidert. Wer nur noch Danksagungen tauscht, hat das Tauschproblem überwunden. Danke Merci!



Samstag, 29. November 2014

Placebo schlägt Pharmakon? Das Pharmaprodukt, kulturwissenschaftlich betrachtet

Der konsumkulturelle Wandel vom Einkaufen zum Shoppen, vom Funktionskauf zum Impulskauf, hat mit ein wenig Verspätung auch die Apotheken erreicht. Das Warenangebot am Point-of-Sale der Pharmaindustrie hat sich entsprechend erweitert und angepasst. Aus einem der letzten widerständigen Orte naturwissenschaftlicher Rationalität ist ein semi-esoterischer Gemischtwarenhandel für Fantasie- und Seelenentlastungsprodukte geworden. Welche Schlüsse kann die Medizin und speziell die Pharmaindustrie aus der Beobachtung und Analyse dieser Entwicklung ziehen?



Im Verkaufsraum moderner Apotheken zeigt sich eine Aufteilung in zwei kulturelle Welten. Das Verkaufspult materialisiert und reguliert diese Trennung. Dahinter regiert die strenge Ordnung der Medikamente im engeren Sinne, studierte „Magister“ bewachen die Grenze der naturwissenschaftlich bewiesenen Wirksamkeiten. Davor drängen sich allerlei Alternativangebote dem Kunden entgegen. Sie versprechen die Sehnsucht nach Heilsein und Heilwerden auf eine Weise zu befriedigen, deren Begründung nicht nur keines Beweises bedarf, sondern eines ganz anderen Diskurses, einer anderen Logik und Rhetorik. Der Kunde sucht nach Ergänzung – doch was fehlt ihm zu jenem „heilen“ Ganzen, das er als Wunschbild imaginiert? Worin liegt sein Mangel, und warum kann die Pharmaindustrie diesen so wenig beheben, dass immer mehr Konkurrenz den Gesundheitsmarkt okkupiert? Forciert gefragt: worin überbietet das Placebo das Pharmakon?

Nicht nur bei einem Placebo tritt der nach ihm benannte Effekt ein, sondern auch bei einem wirksamen Medikament – gleichsam als „erwünschte Nebenwirkung“ des Glaubens an die Macht naturwissenschaftlicher Medizin. Daher hat jedes Medikament auch eine Placebo-Dimension. Diese ist integraler Bestandteil des Pharma-Produkts. Zumindest aus der (unbewussten) Konsumentensicht. Doch wie bewusst ist diese Tatsache den Produzenten? In jeder anderen Industrie ist es selbstverständlich, dass bei der Produktentwicklung und –Vermarktung alle Dimensionen berücksichtigt werden, in denen sich dem Konsumenten die Ware, der Wunsch nach ihr, ihr Nutzen und Wert erschließen. Warum gilt dies für die Pharmaindustrie nicht?

Es gibt in Kulturen nicht nur vielfältige Felder und Subsysteme von Differenzierung neben einander. Neben allen Mikrodifferenzen bilden sich manchmal auch übergeordnete Makrodifferenzen, sogenannte Leitdifferenzen heraus, die sich über lange Zeit halten können. Ihre höchste Macht entfalten sie als zweiwertige Logiken, als Gegensatzpaare und (im Falle emotionaler Aufladung) Polarisierungen. Schon am Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Ethnologe Claude Levi-Strauss die universelle Organisationsmacht von Leitdifferenzen für Kulturen beschrieben: „Das Rohe und das Gekochte“ haben als Beispiel seinem bahnbrechenden Werk den Titel gegeben. Ein moderneres Beispiel für eine Polarisierung, die wirkmächtig und scheinbar unüberwindbar das Denken und Wollen strukturiert, ist das Schema „Links-Rechts“ im System der Politik. Auch in der Apotheke begegnen wir einer relativ jungen, doch sehr starken Leitdifferenz unserer Kultur: Medizin versus Alternativmedizin.

Diese stehen wie zwei Kirchen, wie Glaubenssysteme neben einander. Auch wenn es mittlerweile allerlei Mischwesen gibt (intendierte wie auch unbeabsichtigte), bleibt es doch für den Umgang mit dieser Polarisierungsachse wichtig, deren Theologien gründlich zu verstehen. Die Gesundheitswelt ist derzeit Austragungsort eines „Clash of Civilisations“, eines Kulturkampfes zwischen grundlegend unvereinbaren Paradigmen der Heil(ung)serwartung, des Menschenbilds, Naturbegriffs und Körperverständnisses.

Nun ist das Placebo in gewissem Sinne das besterforschte aller Heilmittel, wenn auch nur in naturwissenschaftlicher Perspektive – schließlich kommt es als Vergleichsmittel in jeder empirischen Wirksamkeitsstudie zum Einsatz. Diese Häufigkeit wird jedoch bisher nicht für „Placeboforschung“ genutzt. Aus pharmakologischer Perspektive ist das Placebo ja nicht mehr als eine Negation der Pharmazie, ein Nichts. Gut erforscht ist nur der Placebo-Effekt seitens der Psychologie. Dieser Wissenschaft bleibt jedoch aus methodischen Gründen die Fragestellung verwehrt, was es ist, das da jeweils „gefallen und überzeugen wird“. Wie der Glaube wirkt, ist Forschungsthema der Psychologie, nicht aber der Glaubensinhalt.

Glaube als Bedeutungssystem ist rein kultureller Natur. Für die Erforschung von Mythen, Vorüberzeugungen, Diskursformationen, Zeichen- und Differenzierungssystemen in der Ästhetik und Rhetorik wäre die Kulturwissenschaft zuständig. Wenn die Produktwirksamkeit eines Medikaments auch nur zu einem kleinen Teil auf dem Placebo-Effekt beruht, müsste die Pharmaindustrie logischer Weise neben einer Abteilung für chemische Grundlagenforschung auch eine Abteilung für kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung betreiben, um ihr eigenes Produkt in vollem Umfang zu verstehen und weiter entwickeln zu können. In der Praxis meint man wohl eher, für Mythen, Sinnbilder und Sinnstiftung sei die Marketingabteilung zuständig, die ihre Kreativität beweisen soll, sobald das neue Produkt fertig ist. Sinn wird als immaterieller, dem Realen des Medikaments äußerlicher Zusatz betrachtet, und nicht als immanenter Bestandteil des Produkts, der mit den Mitteln der Produktentwicklung und des Innovationsmanagements zu erzeugen ist.

Für aufgeklärte vernunftorientierte Menschen ist es schwer, naturwissenschaftlich Begründetes und pseudoreligiöse Phantasmen auf einer Ebene zu betrachten. Kulturwissenschaft hat jedoch zur methodischen Voraussetzung, ihre Objekte der Forschung wertneutral zu beobachten, vergleichen und analysieren. Dass die Erforschung der Bedeutung einer „Heilkräutermischung der Heiligen Hildegard“ nur auf kultur- und religionsgeschichtlichem Wege gelingen kann, leuchtet unmittelbar ein. Auf dem selben Weg kann man sich jedoch auch dem modernen Pharmaprodukt nähern. Und im Vergleich der Verpackungen den Verzicht auf Bilder zugunsten der Sprache in den Blick bringen. Oder das typographische Tabu historisierender Schriften, die für den Märchen erzählenden Gegenspieler so charakteristisch sind.

Betrachtet man das Medikament – unabhängig von seinem Hersteller – als Markenwelt, muss man ihm optimale Markenführung und Wiedererkennbarkeit attestieren. An ihm ist alles künstlich, technisch, chemisch, glänzend, klinisch rein und weiß. Farbzonen sind artifiziell getönt und geometrisch. Kunststoff und Alufolie mögen technische Notwendigkeiten sein, für die kulturelle Wahrnehmung dieser Materialien ist entscheidend, dass sie aus homogenen naturfernen Flüssigkeiten gegossen sind und damit alle Spuren ihrer Genese und Geschichte getilgt haben, so dass sie als Tabula Rasa in ihrer grenzenlosen Plastizität absolute Erzeugnisse menschlichen Willens und technischer Zielgerichtetheit sind. Im Gegensatz dazu versuchen „natürliche“ Produkte, möglichst viele Spuren des Widerstands der Natur gegen die menschliche Funktionalisierung und Überformung erscheinen zu lassen. Braunes Papier etwa gilt als ungebleicht und daher einen Verarbeitungsschritt weiter weg vom Menschen und näher bei der Natur (auch wenn es bloß braun gefärbt ist). Verschnörkelte Buchstaben bei Esoterikprodukten sollen einen Tiefsinn als unergründliche Dimension des Produktnamens suggerieren, der sich mit seiner unökonomischen Umweghaftigkeit der zielgerichteten Geradlinigkeit serifenloser Pharmaschriften entgegen stemmt.

Süß und wohlschmeckend dürfen nur Kindermedikamente sein, für Erwachsene sind bittere Pillen Pflicht, weil erst das Opfern infantiler Begierden jener Isolierung und Abspaltung rationaler Körper-Selbst-Interpretation entspricht, die den Kern jedes medizinischen Heilungsversprechens ausmacht. Medikamente geben sich erwachsen, um an den Erwachsenen im Menschen zu appellieren, sich angesichts von Leid und Erkrankung nicht kindisch regressiv oder weinerlich, sondern bitte erwachsen zu verhalten. Erwachsen im Sinne eines Kindes der Aufklärung, also eines rationalen modernen bürgerlichen Subjekts.

Der tiefe Graben, der Pharmakon und Placebo voneinander trennt, hat eine lange Geschichte, die im impliziten „Storytelling“ gegenwärtiger Produkte weiter lebt. So wortreich der Beipackzettel daher kommt, vermeidet er doch geflissentlich, beispielsweise der Geschichte des Penicillin auch nur den kleinsten Absatz zu widmen. In dieser Geste ist die Medizin genuin modernistisch, ähnlich der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts, die auch radikal gegenwärtig sein und jeden Bezug zu ihrer Tradition verleugnen wollte, um ihre Innovativität und Zukunftsmächtigkeit zu unterstreichen. Eine der Polarisierungsachsen gegenwärtiger Heilkultur zeigt sich darin, dass man das Pharmaprodukt als geschichtsvergessen, das „alternative“ Placebo als geschichtsbesessen bezeichnen kann.

Die Aufklärung, als historisches Fundament jeder modernen Wissenschaft, hat sich aus der Zurückweisung des Mythos, der dunklen Analogien, Sinnbilder und Heilsversprechungen konstituiert. Im Reich der Medizin geht heute die Negation des Mythischen so weit, auch die historische Erzählung ausschließen zu müssen. Dabei trägt die Medizin aus ihrer Geschichte eine schwere Erblast mit sich. Naturwissenschaft zog und zieht ihren Erfolg aus der Beschränkung ihrer Betrachtung und ihrer Methoden auf Messbares und Physisches. Was messbar wird, hängt jedoch ab vom Stand der Technik und von den Modellen, die zur Interpretation des Gemessenen zur Verfügung stehen. Für die Naturauffassung des 19. Jahrhunderts war ein vulgärer Materialismus charakteristisch, der sich auf linear-unidirektionale Kausalität beschränkte und in mechanistischen Modellen dachte. La Mettries populäres Theorem vom „Mensch als Maschine“ hatte die Dampfmaschine im Auge (während seine modernen Nachfahren den ungleich komplexeren Computer zum Vergleich heranziehen).

Heutige naturwissenschaftliche Modelle haben die Dampfmaschine weit hinter sich gelassen und können zirkuläre Kausalitäten und deren Verkettungen, multiple Interdependenzen von Systemen und auch Prozesse selbstorganisierender Musterbildung mathematisch abbilden. Die Komplexität ist so hoch, dass sie sich nicht mehr in populäre Sinnbilder übersetzen lässt. An diesem Punkt der Entwicklung kommt es der Medizin sehr zugute, wenn längst überholte Mythen aus ihren frühen Tagen noch immer in den Köpfen der Patienten nisten, bereit, das Sinnbedürfnis und die Heilserwartung zu befriedigen und so die Leere der Placebo-Dimension wirksamer Pharmaka zu füllen.

Jede naturwissenschaftliche Beschränkung der Methode führt notwendiger Weise zum Konstrukt eines Forschungsobjekts, das dem methodischen Ausschnitt der jeweiligen messenden Betrachtung korrespondiert. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich dem gemäß ein mechanistischer Begriff vom natürlichen Körper, dessen psychologischer Vorteil im Feld der Krankheiten darin besteht, dass sich der Patient von seiner Malaise distanzieren kann. So gern der Mensch sich mit seinem gesunden, jungen, schönen Körper narzisstisch identifiziert, so ungern tut er das mit dem „Gefängnis der Seele“, wenn dieses sich im schlechtest möglichen Zustand befindet. Die dualistische Fantasie, der eigene Körper könnte eine Maschine sein, die man selber von außen distanziert beobachten kann, ohne sie zugleich selbst zu sein, hat für den Leidenden etwas Rettendes. Schließlich lässt sich eine mechanische Maschine meist recht einfach und vor allem vollständig reparieren.

Die Verengung des Menschenbilds war verbunden mit Abspaltungen und Ausblendungen aller Aspekte, für die noch keine Messmethoden und Erklärungsmodelle bereit lagen. Der neue Typ von Wissen harmonierte mit einer bürgerlichen Kultur, die sich das Abspalten von Affekten zugunsten eines „vernünftigen Geistes“ auf die Fahnen geschrieben hatte. Als Mythen des Alltags sind die Ideen des frühen Aufklärungszeitalters immer noch im Umlauf. „Heroische Vernunft im Abwehrkampf gegen das irrationale niedrige Gefühl“, das beispielsweise ist ein Schema von ungebrochener Popularität, auch wenn es in der modernen Psychologie keinerlei Halt mehr findet.

Die Summe des Verleugneten und Abgespaltenen nennt man das Unbewusste. In diesem Sinne ist das Placebo das Unbewusste des Pharmakons: eine Projektionsfläche aller medizin-externen Dimensionen von Krankheitserfahrung und Heilungsphantasie. In den forciert künstlich aussehenden, mit dürren Rationaltexten übervollen Medikamentenschachteln sind alte Mythen einer längt verschwundenen medizinischen Rationalität beigepackt, die als heilsame Vereinfachungen das leidende Subjekt entlasten. Der geometrische Zeichenkörper der Pille verweist auf den Körper als Maschine, jenes aus dem Ganzen der Selbstwahrnehmung herausgeschnittene Konstrukt, auf dessen Utopie der Reparierbarkeit sich das mythologische Heilsversprechen der Schulmedizin nach wie vor stützt.



Die überholten Vereinfachungen und Abspaltungen sind aber nicht nur eine Schwäche der Schulmedizin, die ergänzenden Konkurrenten Spielraum bietet. Sie sind zugleich auf der mythologischen Ebene ihre größte Stärke: das, worin ihr funktionales Heilungsversprechen von einem fantastischen Heilsversprechen gekrönt ist. Wer an die Medizin glaubt, dem wird vom Pharmakon zusätzlich der irrationale Wunsch erfüllt, das Leid von sich abzuspalten, es einem als simple Maschine vorgestellten Körper zuzuschreiben und den Heilungsprozess als mechanische Reparatur zu imaginieren. „Nicht ich leide, nur mein Körper leidet“ – diese Isolierung gehört zu den wesentlichen Substanzen, welche die Placebo-Dimension auch des wirksamsten Medikaments mit irrationalem Sinn und quasireligiöser Heilsverheissung erfüllen.

Sonntag, 26. Oktober 2014

Trotz Müllproblem lieben und kaufen wir Plastik. Warum?

Sauber, abwaschbar und geschmeidig: So hat uns Plastik um den Verstand gebracht. Und selbst in Zeiten zunehmender Müllberge hat die Faszination nicht nachgelassen. Warum greifen wir beim Plastik immer noch so gerne zu? Zu dieser Frage führte Hans-Hermann Kotte mit mir ein Interview für die Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung:




Herr Pauser, Plastik entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Motor der Konsumgesellschaft. Später wurde es zum Symbol der Überflussgesellschaft und der Wegwerfkultur. Was macht Plastik bis heute so verführerisch? 

Plastik war neu, billig und machte Spaß. In den 1950er-Jahren eroberte es Haushalt und Kleiderschrank und ermöglichte es, einen neuen kleinen Reichtum nach Krieg und Mangeljahren zu empfinden. Andere Materialien waren teurer, kostbarer, schwerer verfügbar. Dinge aus Plastik waren etwas, das sich jeder leisten konnte, so billig, dass man sie auch wegwerfen konnte. Die 1968er-Generation, selbst gesättigt, konnte dann dem Mangel im Überfluss nachspüren – und wertete Konsum und Massenprodukte ab.

Worin genau besteht die Verführungskraft des Kunststoffs?

Plastik hat eine Idee auf den Punkt gebracht, nämlich die einer universalen Machbarkeit und Gestaltbarkeit im Zuge der fortschreitenden industriellen Revolution und der technologischen Weiterentwicklung. Plastik als Universalstoff, aus dem man gleichsam alles machen kann. Die privatisierte Version dieser universalen Herstellbarkeit sind die heutigen 3D-Drucker. Sie erneuern das Versprechen des Plastikzeitalters, nicht in Massenproduktion, sondern dezentral.

Schon das Wort Plastik scheint einen Zauber zu besitzen. Wieso?

Plastik, das ist auch ein Wort aus der Bildhauerei. Es wird unterschieden zwischen der Skulptur, also dem, was aus einem Stein- oder Holzblock herausgehackt wird, und der Plastik. Eine Plastik entsteht, wenn aus einem Stoff eine neue Form aufgebaut wird. Der Begriff Plastizität beschreibt die Eigenschaften einer weichen, formbaren Materie. Das Plastik ist so eine Materie, eine, die für die Formbarkeit geschaffen wurde. Geschaffen für den menschlichen Verwendungszweck, was Naturmaterialien ja nicht sind. Material und Form gingen beim Plastik eine bis dahin unerreichte Synthese ein.

Ein Stoff, aus dem die Träume sind?

Der Traum vom Plastik ist, dass eine Idee, ein Wunsch realisiert werden kann, ohne dass es eine Differenz gibt zwischen Realität und Wunschbild. Plastik als vollkommener, reiner Stoff, der eine Herstellung ohne diesen Rest erlaubt. Das ist die metaphysische Dimension des Plastiks: Plastik bringt den Menschen in eine Art göttliche, magische Position. Die Restlosigkeit spielt auch in einem unmittelbareren Sinne eine Rolle: Bei der Herstellung von Plastik wird nicht gehauen oder geschnitzt, nicht gesägt oder gefräst, sondern gegossen.

Die Welt nach den eigenen Wünschen formen.

 Plastik bringt den Menschen in eine göttliche 

Position – sogar im Badezimmer.


Plastik – eine saubere Sache? Klingt absurd angesichts der Plastikmüllberge.

Ja, die Restlosigkeit ist eng mit der Schmutzfrage verbunden. Schmutz ist die kleinteilige Materie, die wir als negativ bewerten. Und im menschlichen Leben gibt es ja immer einen Rest, es gibt kein spurenfreies Leben. Das Versprechen des Plastiks war es aber, dass man auf Erden quasi ohne Spur, ohne Rest, ohne Schmutz, ohne Abfall leben könnte. Hinzu kommt, dass Plastik leichter zu reinigen ist als andere Materialien – Plastik hat also eine Art Totalisierung der Idee der Reinheit versprochen. Diese Idee ist religiösen Ursprungs, älter als die Entdeckung der modernen Hygiene. Heute ist das ins Negative gekippt, weil Plastik für Müll steht. Plastik führt uns die Unmöglichkeit der Utopie des rückstandsfreien Lebens und des mangelfreien Seins vor. Plastik ist in die Position des Schmutzes eingerückt, den zu verdrängen es anfangs versprochen hat.

Verführt Plastik trotzdem noch?

Psychologisch betrachtet ist es so, dass Plastikobjekte deshalb zur Identifikation einladen, weil sie an das Phantasma des perfekten, geschlossenen Körpers andocken, des Körpers, dem nichts fehlt. Ohne Lücke, ohne Riss, ohne Überschuss, ohne Schmutz. Deutlicher formuliert: keine Körperöffnungen, keine Scheiße.

Plastik hilft uns bei der Verdrängung?

Ein sehr alltägliches Beispiel sind die in Folie eingeschweißten und designmäßig optimierten Lebensmittel im Supermarkt: unversehrte Objekte, ohne Spuren des Prozesshaften des Lebens, die uns an die eigene Vergänglichkeit erinnern könnten. Auf den Plastikverpackungen der Lebensmittel finden sich übrigens meist Bilder der Natur, und auch auf der Ebene der Schrift wird Natur heraufbeschworen. Plastik als Trägermaterial für Naturversprechen.

Hat das Künstliche, das dem Plastik zu eigen ist, einen besonderen Reiz?

Je genauer man das Begriffspaar „künstlich/natürlich“ reflektiert, desto mehr löst es sich auf. Es existiert einerseits auf der Welt nichts, was nicht aus der Natur kommt; andererseits gibt es auf diesem Planeten nichts, was nicht schon vom Menschen verwandelt wurde. Künstlich, natürlich – das sind ideologische, kulturelle Zuweisungen, ja Kampfbegriffe. Interessant aber war das Comeback des Plastiks nach der „Jute statt Plastik“-Phase Ende der 1970er-Jahre ...

Wir verdrängen das echte Leben mit 

perfekt verpackten Produkten – 

aber als Schmutz kehrt es zu uns zurück.


Plastik als Retroschick?

... es kam zurück in der Zeit des New Wave und dann des Techno, einerseits als nostalgisch-ironische Reminiszenz an die Nachkriegsboomphase, andererseits als demonstrative Abwendung von der 1968er-Generation und den Ökos. Eine dauerhafte Renaissance feiert Kunststoff übrigens beim Outdoor-Sport und beim Trekking: Wenn es in die wilde Natur geht, kann die Kleidung und Ausrüstung gar nicht hightech genug sein. Da ist Kunststoff mit der Naturgesinnung vereinbar und aufgeladen.

Längst ist Plastik allgegenwärtig. Wir sind abhängig geworden, und nach dem Konsumrausch kommt der Kater: wachsende Müllberge an Land, riesige Müllstrudel in den Meeren, Schadstoffe in den Nahrungsketten von Tier und Mensch. Wie gehen wir damit um, dass Plastik nun für Kontrollverlust, Schmutz und Krankheit, letztlich Tod steht?

Man könnte es die Wiederkehr des Verdrängten nennen, nämlich des verdrängten Schmutzes. Diese Entwicklung erzeugt Ambivalenz im Verhältnis zum Plastik. Und sie schafft gesellschaftliche Konflikte. Ein Ausweg soll das Recycling sein. Ironischerweise ist das eine Neuauflage derselben Phantasmatik, die zum Siegeszug des Plastiks geführt hat. Denn um den Traum vom rückstandsfreien Leben geht es auch beim Recycling. Sämtliche menschlichen Rückstände sollen in Form frisch gepresster Waren wiederkehren. Der Mensch soll sein Heil durch die Aufzehrung seines eigenen Abfalls erreichen.

Was früher „Jute statt Plastik“ war, das ist heute der Plastic Bag Free Day, der Internationale Tag ohne Tüte. Doch lässt sich mit dem Aufruf zum Verzicht wirklich etwas ausrichten?

Das größte Problem bei der Abschaffung der Tüte ist, dass das Shoppen erfunden wurde. Das ist im Gegensatz zum Einkaufen nicht zielgerichtet – und man würde dafür auch keinen Einkaufsbeutel oder eine große Tasche mitnehmen. Shoppen ist mehr ein Flanieren, eine Freizeitbeschäftigung. Beim Shoppen will man zu einem sogenannten Impulskauf verführt werden, es geht darum, Wünschen zu begegnen, Wünsche zu erwecken und zu verspüren. Für den Impulskauf kann ich mir keine Tasche mitnehmen, die Tüte muss in der Sekunde des unerwarteten Impulses verfügbar sein. 

Erschienen im Themenheft "Plastik" des Magazins Fluter der Bundeszentrale für politische Bildung, wo viele weiter führende Artikel zum Themenfeld Kunststoff und dessen Müll-Problematik zu lesen sind: Plastik  

Mittwoch, 23. Juli 2014

Das Fenster, das Tageslicht und die Architektur




Den Begriff Tageslicht verwenden wir seit der Verbreitung elektrischer Beleuchtung als Gegenstück zum künstlichen Licht. Die Architektur unterscheidet Belichtung von Beleuchtung. Vor der Zähmung des Feuers könnte ein Wort für Tageslicht ganz unnötig gewesen sein, aus dem gleichen Grund, aus dem der Fisch vom Wasser keinen Begriff hat, bevor der Angler ihn in die Luft zieht. Wir werden wohl nie erfahren, ob schon vor 500.000 Jahren ein Wort für Tageslicht zur Unterscheidung vom Mondlicht in Verwendung war.



Die frühesten Bauwerke haben das Wunder vollbracht, am helllichten Tage dunkle Innenräume künstlich herzustellen. Dies muss als ebenso faszinierend empfunden worden sein, wie im 19. Jahrhundert die neue technische Möglichkeit, künstlich „die Nacht zum Tag“ zu machen. Die Entwicklung der Glaserzeugung, vor allem der Schritt zum Flachglas und dessen industrieller Massenproduktion ermöglichte das Fenster im heute uns so selbstverständlichen Sinne. Die Differenzierung von Fenster, Wand und Türe verlieh lange Zeit den Bauten eine anthropomorphe Dimension der Wahrnehmung, die in der Frontwand ein Gesicht („Facade“) und entsprechend in der Tür einen Mund und in den Fenster Augen erblicken konnte.



Die Größe der Fenster war über Jahrhunderte von ökonomischen Rahmen geprägt. Das fensterlose Gebäude kehrte zuerst in Form des königlichen Gewächshauses zurück - reine Glasarchitektur schließt Fenster aus. Im Gegensatz zum größten Teil des architektonischen Bestands, der durch rhythmisches Alternieren von Stein und Glas, Wand und Fenster seine charakteristische Gestalt erhält, tendiert Glasarchitektur zum Monolithen ohne Stein, zur Skulptur aus Licht, zum Sinnbild des Kristalls.



Das Licht der Sonne ist eine so elementare Voraussetzung und Begleiterscheinung des Lebens, dass man leicht verführt ist, seinen Wert zu positivieren, wie es naturwissenschaftliche und medizinische Betrachtungen nahelegen. Blickt man jedoch zurück in die Geschichte, zeigt sich ein Bild der Abwechslung kollektiver Begeisterungen für das künstliche Licht, das helle Tageslicht und auch für die Düsternis.



So wurde etwa in Teilen Europas die gotische Kathedralenarchitektur aufgrund ihrer Lichtfülle abgelehnt. Die auf die Aufklärung folgende Romantik bevorzugte das Düstere, Novalis widmete der Nacht Hymnen. In Schivelbuschs „Geschichte der elektrischen Beleuchtung“ kann man die öffentliche Euphorie anlässlich der neuen Nachthelle der Metropolen nachlesen, und niemand hat die Feindlichkeit der bürgerlichen Wohnung des späten 19. Jahrhunderts gegenüber dem Tageslicht schöner beschrieben als Walter Benjamin, der vom Interieur als „komplettiertem Futteral“ sprach. In historisierender Absicht kehrten Putzenscheiben in die Fenster zurück, um Aussicht und Lichteinfall möglichst zu behindern, mehrere Schichten von Vorhängen und Draperien dämpften das Licht weiter, bevor es in dunkelbraun hölzernen Wand- und Deckenpaneelen endgültig verschluckt wurde.



An diesen Extremismus des Ausschlusses von Tageslicht aus der Wohnarchitektur muss man sich erinnern, um das Protestpotential und den Befreiungsimpuls der frühen Modernisten zu verstehen, die sich radikal auf die Seite der Taghelle schlugen und ein kontinuierliches Wachstum der Fenstergröße und des Einsatzes von Glas initiierten, welches bis heute fortwirkt.



Glas als Vermittler und Mittelding




Glas ist unsichtbar. Beinahe. Auf seiner Unsichtbarkeit beruhen die vielfältigen Funktionen und Beiträge, die es für das Sichtbarmachen leistet. Und das Beinahe, der schillernde Rest an eigener Sichtbarkeit, macht diesen realen Stoff anfällig für Metaphern. Ist Glas so transparent, wie es unseren Funktionserwartungen entspricht, fixiert es unsere Sicht auf das, was wir gerne „Realität“ nennen. Erst wenn es uns Sehstörungen verschafft, durch Trübung, Spiegelung und Reflex, tritt es selbst als Material, Körper und Zwischending hervor. Dieses reale Sichtbarwerden eines programmatisch Unsichtbaren provoziert Deutung und erzeugt Bedeutung.



Wo Glas sehen lässt, eröffnet es den Raum der Realität, wo es selbst sichtbar wird, eröffnet es den Raum des Metaphorischen. In der subjektiven Wahrnehmung als Phänomen wechselt es in permanentem Spiel zwischen diesen Räumen und Ebenen. Dieses bewegte Spiel verleiht der toten Materie Leben. Dass Glas gänzlich unsichtbar wird, ist nur selten der Fall und führt oft zum Unfall - gegen den es nur ein Mittel gibt: die Aufschrift „Vorsicht Glas!“



Ein Zwischending ist die Glasscheibe daher nicht nur zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, sondern auch zwischen dem Realen und dem Symbolischen. In der Glasscheibe wird symptomatisch, dass es gar keinen Blick aufs Reale geben kann, dem nicht das Symbolische dazwischen kommt, wie eine Brücke, die zugleich verbindet und trennt. Wie eine optische Linse, die den Blick nicht schärfen kann, ohne ihn zu brechen.



Im Licht der Aufklärung




Eine der ideengeschichtlichen Wurzeln der Begeisterung des Modernismus für Glas und Tageslicht war die Aufklärung und ihr Konzept des hellwachen, sich selbst überwachenden und reflexiv sich selbst transparenten Subjekts. Bei der Aufklärung handelt es sich um eine Lichtmetapher, deren Besonderheit darin liegt, keine Metaphern dulden zu wollen. Im Lichte der Aufklärung gelten Metaphern als dunkel und unrein; gegen sie ist mit den Tugenden des Glases, mit Helligkeit, Klarheit und Transparenz vorzugehen.



Trefflich fügt es sich, dass auch die Freiheit im Glas ihre Anschaulichkeit findet: Weil Unfreiheit in Gefängnismauern ihr stärkstes Sinnbild hat, wurde in der Architektur die Vergrößerung des Fensters - bis hin zur Totalisierung - auf Kosten des Mauerwerks zur Freiheitsmetapher.



Gleichheit und Brüderlichkeit dürfen nicht fehlen, wenn Glas die Aufklärung vollständig symbolisieren soll. Und tatsächlich: liegt nicht in der Homogenität des gläsernen Materials, im Abbau der Mauern und Grenzen zwischen Menschen und Klassen, im Durchlässigwerden traditioneller Ausgrenzungen, in der gleichmäßigen wechselseitigen Sichtbarkeit von Menschen in und außerhalb von Gebäuden ein starkes Sinnbild sozialer Indifferenz, Demokratie und gesellschaftlicher Offenheit?



Die Architektur der Moderne weist dem Glas als Verkörperung von Transparenz ein Bündel von Werten und Bedeutungen zu. Gemäß dem hohen Stellenwert des Funktionalen schätzt man am Glas primär dessen Durchsichtigkeit. Keinen Schein soll es erzeugen, keinen Schleier weben, sondern „hinter die Fassaden blicken lassen“, wie eine überaus beliebte aufklärerische Redewendung dies formuliert. Keine Mythen soll es erzählen, sondern die nackte, die ganze Wahrheit ans Licht bringen. Vernünftigkeit, Ornamentlosigkeit, Einfachheit und funktionale Effizienz sollen sich im großflächigen Glas spiegeln.



Die gegenwärtig vorherrschende Deutung des Glases besagt, dieses sei kein mythischer, sondern ein aufklärender Stoff, kein metaphorisches, sondern ein realistisches Baumaterial. Diesem Glasmythos gingen jedoch in der Geschichte der Architektur ganz andere, ja gegenteilige Glasmythologien voraus.



Glas, ein mythologischer Stoff




Der antimythische Stoff ist randvoll aufgeladen mit Sinn: „Die Sehnsucht nach Reinheit und Klarheit, nach leuchtender Helligkeit, kristallischer Exaktheit, nach körperloser Leichtigkeit und unendlicher Lebendigkeit fand das Glas als Mittel ihrer Erfüllung – den körperlosesten, den elementarsten, den wandlungsfähigsten und an Deutungen und Anregungen reichsten Stoff, der wie kein anderer verschmilzt mit der Welt, der am wenigsten starr steht, sondern sich wandelt mit jedem Wandel der Atmosphäre, unendlich reich an Beziehungen, das Oben im Unten, das Unten im Oben spiegelnd, beseelt, voller Geist und lebendig“[i], schrieb der Architekturkritiker Adolf Behne im Jahre 1916 über jenes pionierhafte Glashaus, das Bruno Taut auf der Kölner Werkbund-Ausstellung 1914 realisiert hatte.



Glas und Natur: The Crystal Palace




Im Gegensatz zu den steinernen Gebäuden, in denen die Tradition der Ansässigkeit gleichsam einzementiert war, wurden die Glas-Eisen-Konstruktionen im 19. Jahrhundert vorzugsweise für jene neuen Bautypen verwendet, die aus der gestiegenen Mobilität und Transitorik hervorgegangen waren. Der Bahnhof war die wichtigste architektonische Aufgabe, die den technischen Fortschritt der Eisenkonstruktion vorantrieb. Daneben verbreiteten sich die Passagen, von Glas überdachte Einkaufsstraßen, in den Metropolen Europas. Glasarchitektur war an Passanten und Passagiere adressiert, ein kultureller Gegenpol zu jedem Sitz, zu jeder Wohnlichkeit. Die Ingenieure zielten auf die gläserne Haut, auf die Illusion eines luftigen Schwebens.



Trotz der ästhetischen Faszination, die der Glasbau im 19. Jahrhundert ausübte, wurde ihm die künstlerische Anerkennung verweigert. Der Begriff Architektur blieb auf den ornamentierten Steinbau beschränkt, die Materialien Eisen und Glas wurden der technisch-rationalen Welt des Ingenieurwesens zugeordnet. Genieästhetik und Historismus hatten die Aufgabe übernommen, die Lasten der Modernisierung ästhetisch zu kompensieren. Der Glasbau, als technische Innovation, prunkte auf der Seite des Fortschritts und blieb als „Zweckbau“ lange Zeit aus dem Pantheon der schönen Künste ausgeschlossen.



Für die Londoner Weltausstellung 1851 wurde von Paxton der gigantische „Crystal Palace“ gebaut – er wurde rasch berühmt und gab dem Glasbau starke Impulse. Der Zeitgenosse Richard Lucae schilderte seinen Eindruck mit folgenden Worten: „...wir sind in einer künstlich geschaffenen Umgebung, die – ich möchte sagen – schon wieder aufgehört hat, ein Raum zu sein. Wie bei einem Kristall, so gibt es auch hier kein eigentliches Innen und Außen. Wir sind von der Natur getrennt, aber wir fühlen es kaum. Die Schranke, die sich zwischen uns und die Landschaft gestellt hat, ist eine fast wesenlose. Wenn wir uns denken, dass man die Luft gießen könnte wie eine Flüssigkeit, dann haben wir hier die Empfindung, als hätte die freie Luft eine feste Gestalt behalten, nachdem die Form, in die sie gegossen war, ihr wieder abgenommen wurde. Wir sind in einem Stück herausgeschnittener Atmosphäre.“[ii]



Tageslicht und Moderne




Im 20. Jahrhundert griff die Glasarchitektur auf alle Bautypen über. „Das Fenster wurde aufgerissen, die Wohnung verlor ihren Festungscharakter, ihre Solidität. Dabei fiel dem Licht die Rolle eines Peitschenschlages zu, der den Bewohner begreifen lehren sollte, dass das Drinnen ein Draußen war. Das Fenster bildet nur mehr eine entstofflichte Membrane zwischen innen und außen. Im scharfen Licht und der blitzenden Sauberkeit gibt es keinen Rückzug mehr von der Welt der Arbeit. Der Begriff des Privatiers ist unwiderruflich aufgelöst. Das störende Fenster wird allgegenwärtig. Damit vollendet sich die Säkularisierung jener sozialen Utopien, die mit dem Glashaus den Ort der Versöhnung von Natur und Gesellschaft zu entwerfen suchten.“[iii]



Der Gestus des Öffnens und Vergrößerns des Fensters, der Drang zum Licht zielte auf die „Vision des befreiten Wohnens: Das Haus ist nicht mehr das schwerfällige Ding, das den Jahrhunderten trotzen will... kein archaisches Wesen mehr, das mit seinen tiefen Fundamenten im Boden verwurzelt ist und mit einer Pietät erbaut, auf die sich seit so langer Zeit der Kult der Familie stützt...“[iv] Durch Glas und Helligkeit soll der moderne Mensch befreit werden von der traditionellen Ableitung seiner Identität aus Abstammung und Ansässigkeit – Leichtigkeit, Mobilität und Individualität werden für das sich selbst aus Reflexion und autonomem Handeln begründende Subjekt des 20. Jahrhunderts zum neuen Leitbild. Wurzeln und Steinmauern sind die Gegenbilder zu jener Freiheit, die in der Glasarchitektur anschaulich werden soll.



Den utopistischen Architekten der „Gläsernen Kette“ erschien Glas als „das einzige Material, das durch das Licht als solches zur Darstellung gebracht und zugleich durch das Licht entmaterialisiert“[v] wird. Mit dem Glashaus als Kristall verband sich „das elitäre Selbstgefühl einer Künstlergemeinschaft, die den Affront suchte: Er war gegen den bürgerlichen Spießer gerichtet, der, hinter festem Mauerwerk sitzend, es sich gemütlich gemacht hatte.“ Die Helligkeit sollte künftig verhindern, in „Stumpfsinn, Gewohnheit und Gemütlichkeit“ zu verfallen[vi].



Helle Gegenwart




Seither schillert Glas, im Neomodernismus wie im Dekonstruktivismus, zwischen der Bedeutung des Funktionalen und dem Funktionieren von Bedeutung. Doch das ahnte schon Bruno Taut, der seine Korrespondenzen mit dem Decknamen „Glas“ zu unterzeichnen pflegte: „Glas ist jener Baustoff, der Materie und doch mehr als gewöhnliche Materie bedeutet.“[vii]



Ob die Geschichte des Fensters mit dessen Totalisierung endet, ist ungewiss, seit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Energie knapp und kostspielig wurde. Heute werden Wärme, Kälte, Luft, Energie, Erzeugung, Transport, Licht und Schatten komplex und langfristig bilanziert und in immer neue technische Kombinationen gebracht. Glas tendiert im dritten Jahrtausend vom simplen Material zur technologisch angereicherten, multifunktionalen und steuerbaren Membrane, die ebenso Fenster sein kann, wie auch Wand oder Dach. Was wir aus der Geschichte der Raumbelichtung für die Zukunft mit Gewissheit schließen können, ist einzig deren Doppelgesichtigkeit, in der technische und kulturelle Innovation zu gleichen Teilen ihren Ausdruck finden werden.



Literatur:

Adolf Behne, Gedanken über Kunst und Zweck, dem Glashause gewidmet, in: Kunstgewerbeblatt, 27. Jg., Neue Folge 1915/16, H. 1 Oktober, S. 2.

Monica Hennig-Schefold, Helga Schmidt-Thomsen: Transparenz und Masse. Passagen und Hallen aus Eisen und Glas 1800-1880. Dumont, Köln 1972, S. 8.

„Das Glashaus als Fluchtpunkt der Sozialutopie“, in: Georg Kohlmaier, Barna von Sartori: Das Glashaus. Ein Bautypus des 19. Jahrhunderts. Prestel, München 1981, S. 28ff.

Rosemarie Haag Bletter: Paul Scheerbart´s Architectural Fantasies. Journal of the Society of Architectural Historians, Mai 1975 Bd. XXXIV, Nr. 2, S. 90 ff.

Klaus-D. Pohl: „Sinnbild neuen Lebens“ – Kristall und Kristallisation in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Faszination Edelstein. Katalog d. Hessischen Landesmuseums Darmstadt, Bern 1992, S. 80

Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Olms Verlag, Hildesheim 1991

Paul Scheerbart: Glasarchitektur und Glashausbriefe. Verlag Kl. Renner, München 1986 (1914), S. 55 und 85.

Wolfgang Pehnt: Die Architektur des Expressionismus, Hatje, Stuttgart 1981 (1973), S. 41

Magdalena Droste: Bauhaus. Taschen Verlag Köln 1993, S. 79 ff

Wolfgang Pehnt: Der Anfang der Bescheidenheit. Kritische Aufsätze zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Prestel, München 1983, S. 86

Anmerkungen:

[i] Adolf Behne, Gedanken über Kunst und Zweck, dem Glashause gewidmet, in: Kunstgewerbeblatt, 27. Jg., Neue Folge 1915/16, H. 1 Oktober, S. 2.

[ii] Ebd. S. 17

[iii] Ebd. S. 41, 44

[iv] so ein Zeitgenosse der Neuen Sachlichkeit, zit. Nach Kohlmaier a.a.O. S. 41

[v] Kohlmaier, a.a.O. S. 37

[vi] Kohlmaier, a.a.O. S. 38

[vii] zit. nach Pehnt, ebd. S. 77

Sonntag, 20. Juli 2014

Das Fenster – am Ende seiner Geschichte?

Fenster sind etwas Selbstverständliches. Wenn kleine Kinder ein Haus zeichnen, hat das ein Dach, Mauern, Tür und Fenster. Eine fensterlose Welt können wir uns kaum vorstellen. Und doch gibt es Tendenzen und Innovationen der Technik und Architektur, die das gute alte Fenster in seiner Existenz bedrohen oder zumindest – freundlicher formuliert – herausfordern.




Für die Architektur-Biennale 2014 in Venedig wurde von ihrem Kurator, dem Star-Architekten Rem Koolhaas, der Begriff „Fundamentals“ als Titel gewählt. Damit sind nicht nur die Fundamente eines Bauwerks, sondern all jene wesentlichen Elemente gemeint, aus denen sich jedes Gebäude zusammen setzt: Fenster, Boden, Wand, Treppe...

Im Rückblick auf die gesamte Geschichte des Bauens spielte die Erfindung des Fensters eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Architektur. Das ganz frühe Extrem war der fensterlose Bau, wie z.B. das indianische Pueblo, das nur oben eine Öffnung hat, oder das Iglu der Inuit. Auch noch das antike Atrium-Haus der Römer ist nach außen weitgehend geschlossen. Licht und Luft empfängt es aus dem zentralen Innenhof, dem Atrium. Darin zeigt sich eine Lebensform, die sich vom Außen stark absondert und auf einen familiären Schutzraum hin zentriert ist. Man könnte das eine introvertierte Architektur nennen, die nach außen mauert und im Innersten ein kleines Paradiesgärtlein mit Teich und Blumen birgt.


Historisch folgt dann die große Geschichte des Fensters, die bis heute unsere Idee eines Hauses prägt. Mit den technischen Möglichkeiten wuchsen die Fenster, vor allem seit der industriellen Herstellung von Flachglas im 19. Jahrhundert. Diese Entwicklung führt bis zu jenem äußersten Punkt, an dem es Gebäude gibt, die gar keine Außenmauern mehr haben, sondern nur noch aus Fenster bestehen. Das ist genau genommen das gleiche, wie dass sie gar keine Fenster mehr haben, sondern gläserne Wände. In den stilprägenden Einfamilienhäusern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – man denke nur an Mies van der Rohes Villa Tugendhat – findet die Architektur zurück zum fensterlosen Haus. Dieses ist freilich nicht ummauert, sondern voll verglast. Gleiches gilt für die Industriearchitektur der frühen Moderne, die erste Glasfassaden, die so genannten „curtain walls“ hervorbrachte.

Die Bürobauten der heutigen Stadtzentren sind oft genug Glaswürfel. Ihre Fassaden mildern und filtern jedoch meist die Einsehbarkeit. Am Bauhaus diskutierte man noch die totale Transparenz als moralisches Ideal. Permanent von außen für alle sichtbar sein zu wollen erforderte jedoch einiges an Heldentum. Mittlerweile haben Architekturhistoriker aufgearbeitet, wie unwohl sich die ersten Bewohner voll verglaster Villen gefühlt haben – Vorhänge waren ja vom Architekten meist verpönt und „verboten“. Altmodische Bedürfnisse wie Privatheit und Intimität sollten den neuen Ideen der Befreiung, Vernunft und Offenheit geopfert werden. Den Bewohnern wurde viel abverlangt von diesen Idealbauten.



In der Architektur der Gegenwart sind beim Einfamilienhaus die Wände zurück gekehrt, sie werden jedoch mit gläsernen Wänden kombiniert. Was es nicht mehr gibt, ist das klassische, repräsentative, anthropomorphe Kreuz- und Flügel-Fenster. Statt dessen sehen wir kleine verglaste Luken und gläserne Bänder in allen Längen und Breiten, sowohl horizontal als auch vertikal. Die sehen aus wie Fenster, die keine Fenster sein wollen. Die große historische Weiterentwicklung in der Architektur aber ist die Überwindung des Gegensatzes von Wand und Fenster durch das Konzept der Membrane.

Beim Fenster fallen die Funktionen Licht, Luft, Aussicht und Einblick in einem einzigen simplen Objekt zusammen. Moderne Gebäudetechnik trennt diese Funktionen, um jede für sich optimieren und fein regulieren zu können. Das Ideal der Membrane ist eine vielschichtige Gebäudehülle, die verschiedene Grade der Transparenz und Verschattung, Öffnung und Perforation, Durchlässigkeit und Dichte miteinander verknüpft. Damit kommt an jeden Ort im Gebäude so viel Licht, Luft, Einsicht und Aussicht, wie es den Bedürfnissen der Bewohner entspricht. Zur Idee der Membrane gehört auch die Steuerbarkeit, die Variabilität. All das, was heute mit dem Begriff „smart home“ angesprochen wird. Nicht das Haus, sondern der Mensch bestimmt, wie offen oder geschlossen eine Situation gerade sein soll.

Entwürfe von Delugan Meissl als Beispiele für Fenster als Band und für das Konzept der Membrane.

Membrane könnte man definieren als „weder Mauer noch Fenster“, als eine mehrschichtige Außenhaut, deren Charakteristikum darin besteht, auf differenzierende Weise durchlässig zu sein. Sie folgt der Idee der Halbdurchlässigkeit, welche dann im Inneren des Gebäudes mit modernster Technik real hergestellt wird. In einem solchen Bauwerk gibt es natürlich kein Vorhangverbot, im Gegenteil. Großzügige Verglasung gibt die Möglichkeit zur Öffnung, aber nicht mehr den Zwang, wie in der Programmatik des frühen Modernismus. Die mehrschichtige Membran-Hülle von heute bietet das Potential, zwischen Öffnung und Schließung frei wählen, abstimmen und modulieren zu können.

Es geht dabei um variable durchlässige Schichten, die zwischen Innen und Außen vermitteln. Das entspricht unserem heutigen, komplexer gewordenen Verhältnis zur Natur: Die klassische Mauer war ein gegen die bedrohliche Natur gerichtetes Projekt. Die Vollverglasung wollte ein romantisches Leben in der Natur, was nur zum Schein und in Parks gelingen konnte. Heute wollen wir mit der Natur verbunden sein, in einem Dialog, der unser planetarisches und ökologisches Bewusstsein mit reflektiert. Und Technologie nicht mehr prinzipiell als naturwidrig, sondern als Entwicklungschance dafür begreift, mit der Natur zu leben, ohne dass der Mensch die Natur schädigt, und ohne dass die Natur den Menschen bedroht. In diesem Sinne ist die Membrane als Thema der Architektur nicht nur Ergebnis fortgeschrittener Haustechnik und komplexerer Anforderungen, sondern auch ein Sinnbild, das unser neues Verhältnis zur Natur zum Ausdruck bringt.

Samstag, 26. April 2014

Parkett: Leben auf gutem Grund

Fuß-Note zur Kultur-Anthropologie des Holzbodens 

Aus Staub sind wir, und zu Staub sollen wir werden – das ist die ultimativ schlechte Nachricht, die uns von unten her zukommt, nicht erst, seit die Bibel sie so griffig formuliert hat. Um mit dieser narzisstischen Kränkung nicht permanent konfrontiert zu sein, wurde zwischen Mensch und Erde eine Schicht eingeschoben, die man Boden nennt. Der Boden bereinigt das problematische Verhältnis zwischen Mensch und Erde, sorgt für stabile Verhältnisse und bietet selbst eine Darstellungsfläche für die Inszenierung vielfältiger Rituale der Bereinigung. 


Das Andere des Bodens ist die Erde. Von ihrem Ausschluss her ist der Boden zu verstehen. Erde ist instabil gegenüber der Form: Vermischt mit Luft verflüchtigt sie sich zu Staub, vermischt mit Wasser wird sie zu Schlamm und droht, dass wir darin versinken. Wo sie halbwegs fest und trocken ist, zeigt sie sich bei näherer Betrachtung als Gemenge halbverwester Abfälle. Erde zu sein ist ein Zwischenzustand des Organischen zwischen Tod und neuerlichem Leben. Die Erde ist auf unbegreifliche Weise lebendig als Lebensverdauungs- und Recycling-Maschine. Sie ist aber auch selbst „unter der Erde“ und in diesem Sinne ein dunkles Totenreich, das nicht nur als Potential allen irdischen Lebens, sondern auch als dessen unausweichliches Endlager evident ist. 


Um Evidentes zu vergessen, bedarf es aufwendiger Vorkehrungen: Der Fußboden ist ein universales Kult-Gerät all derer, die nicht „auf der nackten Erde hausen“ wollen. Mit ihm betreten wir den Boden der Kultur – das ist die gute Nachricht. Denn da wir weder die Natur noch die Sterblichkeit verlassen oder gänzlich negieren können, bleibt uns nur die Möglichkeit, Zeichen zu produzieren, in denen Natur und Tod in einer Weise negiert werden, in der sie nur noch als Repräsentationen weiter präsent bleiben – abwesend und anwesend zugleich. Das ist ein seit Jahrtausenden bewährter Kompromiss, man nennt ihn auch Ästhetik. Die Natur wird ausgetrieben, um vom Menschen in Form gebracht zur Hintertür wieder hereinzukommen. Die Natur wird vernichtet, um als Artefakt wieder aufzuerstehen. Nur als Ornament ist sie erträglich – das gilt auch für alle aktuellen Darstellungen von „purer“, roher und ursprünglicher Natürlichkeit, die unsere Produktwelt artifiziell überziehen. 


Lange bevor Axt und Säge zur Verfügung standen, bedeckten „mit Moos gedichtete Knüppelgelege“ als erste Holzböden die Hütten unserer Vorfahren. Seither haben sich nur die technischen Methoden der Homogenisierung, die strukturierenden Gestaltungen (wie etwa Parkett) und die Bedeutungen verändert. Der Holzboden selbst scheint eine Konstante der menschlichen Weltbewohnung zu sein. Seine nahezu globale und transhistorische Erfolgsgeschichte kann nicht mehr aus Funktionen erklärt werden, seit diese von anderen Materialien ersetzbar sind. Was prädestiniert Boden und Holz füreinander, jenseits aller Verfügbarkeiten und Funktionalitäten? 

Um als Zwischenschicht zwischen Mensch und Erde optimal zu sein, bedarf es vermittelnder und medialer Qualitäten. Holz ist in sich differenziert genug, um als Erzähler zu funktionieren, und homogen genug, um seine Botschaften unterschwellig ausbreiten zu können. Einen Holzboden muss man übergehen können, seine Struktur muss man übersehen können. Holz schreit einen nie an, es flüstert. 




Holz spricht zu allen Sinnen, erzählt auf allen Ebenen von seiner speziellen Art, nach seinem Tod als Baum für den Menschen ewig lebendig bleiben zu können. Wenn Holz riecht, erleben wir das als frischen Duft, obwohl es sich objektiv um die Ausdünstung einer toten Pflanze handelt. Wenn Holz knarrt, scheint es uns ein Lebenszeichen zu geben, obwohl das Knarren ein Symptom des Elastizitätsverlusts post mortem ist. Wirft sich ein Brett, so bäumt es sich vermeintlich auf gegen seine starre Einspannung. So viel „Eigendynamik“ behält dieses Material nach der Abtötung seines pflanzlichen Lebens, dass es nicht nur unvergänglich als Werkstoff, sondern auch ewig lebendig erscheint.

Dazu passt, dass es sich warm anfühlt, ohne warm zu sein. Holz ist geradezu interaktiv, denn es reagiert, schwingt mit oder dagegen, knarrt freundlich beim Betreten und zeigt sich als Wesen mit Identität, so unverwechselbar gemasert wie ein Fingerabdruck. Holz zeigt mal seine harte, mal seine weiche Seite, beugt sich unserem Druck, um dann doch zurückzuschnellen. Es ist reaktionsfreudig und doch ein beharrlicher, verlässlicher Begleiter. 



Der Baum zählt die Zeit wie der Mensch in Jahren und schreibt sie digital auf, die Jahresringe sind sein Bar-Code. Überlebt hat er uns schon, bevor wir ihn erlegten, und auch in seinem zweiten Leben wird er länger da sein, als wir. Neben den Spuren seines Wachsens trägt ein Holzbrett auch die Spuren seiner Benützer, oft nicht nur der gegenwärtigen, sondern mitunter auch von Generationen davor. Geduldig nimmt es alle Lebenszeichen und Verletzungen in sich auf und mischt sie mit seiner eigenen Maserung zur umfassenden Metapher einer die menschliche übersteigenden Zeit. Der Baum lebt nicht nur länger als der Mensch, er ist auch um Jahrhunderte länger tot – ohne freilich zu verschwinden. Gäbe es Holz nicht, man müsste es erfinden, um zwischen Mensch und Erde eine Kultur der Vermittlung zu etablieren. Wie eine Brücke trennt und verbindet der Holzboden Lebendigkeit und Totheit, Natur und Künstlichkeit. Er ist auf künstliche Art natürlich und auf lebendige Weise tot. 





Sonntag, 2. März 2014

Melitta als Symptom, Symbol und Innovation

In der Entwicklungsgeschichte der Kaffeemaschinen ist Melitta ein Fall, der es verdient, hervor gehoben zu werden – wenn auch nicht als Ausnahme, sondern als Spitzenbeispiel für unser Thema, das wir langfristig verfolgen: Der Beitrag eines Feuilletons zum Diskurs über Innovationen kann nur darin bestehen, das Zusammenspiel kultureller und technischer Faktoren für die Entwicklung und Marktakzeptanz von Produkten zu untersuchen, um darin allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. In unserem konkreten Fall lautet die Frage: Was macht Melitta seit mehr als 100 Jahren so erfolgreich?



Kaum jemand leugnet heute noch, dass kultureller Wandel und kulturelle Werte auf die Entstehung wie auf den Erfolg technischer Innovationen großen Einfluss haben. Dennoch gehört es zu unserer kulturellen Tradition, technische Rationalität und kulturelle Entwicklungslogik getrennt zu betrachten. Zwei Diskurse laufen parallel, Brückenschläge sind selten und dann oftmals naiver als die veranschlagte Kompetenz im je eigenen Fach. Technologie und Kulturwissenschaften sind Parallel-Universen. Ihre Diskurse sind kaum anschlussfähig, weil die dahinter liegenden Modelle und deren Grundbegriffe, vor allem aber der „Rationalitätstyp“ unvermittelt bleiben. Besonders die technische Rationalität neigt zur Selbstisolierung, nicht selten zur Selbstbegründung. Was nicht materiell und realistisch, mathematisierbar und kausallogisch oder gar in einem linear funktionalistischen Mittel-Zweck-Modell nicht denkbar ist, wird als „Randbedingung“ externalisiert, oft sogar als „irrational“ oder „soft factor“ eingestuft. In einer entwickelten Konsumgesellschaft jedoch ist das Modell des „homo rationale“ für die Nachfrage als Randphänomen einzustufen, während die „weichen Faktoren“ dominieren und spätestens dann ihre Weichheit verlieren, wenn die Verkaufsergebnisse in harten Zahlen auf dem Tische liegen.










Die Entstehungsgeschichte der Melitta-Filtertüte wird stets funktionalistisch erzählt. Hausfrau Melitta Bentz fühlte sich vor etwas mehr als 100 Jahren beim Kaffeekränzchen gestört von braunen Krümeln, die den damals üblichen Sieben durchs Netz gingen und sich statt dessen zwischen den Zähnen verfingen. Sie erkannte darin ein Problem und sann nach einer technischen Lösung. Durchlöcherte mit dem Nagel eine alte Konservenbüchse und entnahm dem Schulheft ihres Sprösslings ein Löschblatt, um damit den Kaffeesatz feinmaschiger von der Brühe zu scheiden. So ward die Filtertüte® erfunden! Der Rest ist Geschichte, das Ergebnis ein großer Konzern.

Doch wenn ein Funktionsvorteil das Erfolgsgeheimnis von Melitta ist, bleiben zwei Fragen rätselhaft: Warum gilt Melitta-Kaffee als Inbegriff der Kultur Deutschlands? Und warum hält er in seiner Heimat trotz neuer Konkurrenz durch Espresso und Nespresso noch 70% Marktanteil, obwohl ihm nachgesagt wird, von „lauwarmem geschmacklosem Abwaschwasser“ nicht in hinreichendem Maße unterscheidbar zu sein?

Kaffee-Schlacht zwischen Nord und Süd

Die lokalkulturelle Aufgeladenheit des Filterkaffees wurde mir an einer Beobachtung deutlich, die ich in Italien im Schaufenster einer Espresso-Bar machen konnte. Um deutsche Touristen anzulocken, versprach ein Plakat „echte Deutsch-Káffe!“. Darunter hatte der Wirt zur Illustration etwas gebastelt, was den für amerikanische Longdrinks üblichen Papier-Sonnen-Schirmchen nachempfunden war: Aus einer auffallend großen Tasse ragte eine dünne hölzerne Stange, auf der die Mini-Version einer Filtertüte angebracht war, wie ein umgekehrter Sonnenschirm. Diese Standarte sollte die Authentizität der in den Süden transferierten Deutschen Kaffee-Filtrier-Kultur verkünden und gleichsam evident werden lassen.

Die Außenperspektive vom Süden her auf die nördliche protestantische Kultur hebt jenen Schritt des Kaffeemachens als Symbol hervor und gleichsam auf die Fahne, der in der Melitta Technik die zentrale Rolle spielt: das Trennen vom Sud. Der Vorzeige-Filter bietet sich an als Nationalsymbol, weil er für die klischeehaften Zuschreibungen des „Typisch Deutschen“ bestens geeignet ist. Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Regelbefolgung, knausrige Geldorientierung, Pingeligkeit, moralistische Strenge gegen sich selbst wie gegen andere, Zwanghaftigkeit und vor allem Reinlichkeit, die ganze Palette an Vorurteilen, die im Rest der Welt über die Deutschen kursieren, lassen sich im Symbol des Filter-Fähnchens verdichten. Es hält dem Deutschen Reinheitsgebot im schmutzigen Süden die Stange.

Katholischer versus Protestantischer Kaffee

Religionssoziologisch relevant ist für die Herausbildung dieses Sets von Typizitäten der Unterschied zwischen der katholischen Kultur des Südens, in der Sünden über den Weg der Beichte verzeihbar sind, und der protestantischen Kultur, die Moral an Vernunft koppelt und damit nicht nur Verzeihung, sondern auch jede Relativierung einer Bewertung unmöglich macht. Im Norden wird alles ernst genommen, es werden scharfe Trennlinien gezogen, Richtig und Falsch werden streng unterschieden.


Zitat aus dem Blog breigh.com

Tiefenpsychologisch betrachtet, ist das genannte Set von Zuschreibungen dem zuzuordnen, was „der anale Charakter“ genannt wird: „Der „anale Charakter“ ist penibel, ordnungsliebend, zwanghaft, sparsam, starrsinnig usw.“ (Wikipedia). Der Zusammenhang dieser Eigenschaften liegt in der Entwicklungsgeschichte des Kleinkinds, das in der Phase der Reinlichkeitserziehung auf konfliktreiche Weise lernt, am eigenen Körper die Differenz von Gut und Böse mit Sauberkeit und Schmutz, hergeben und zurückhalten, gehenlassen und kontrollieren zu verkoppeln. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die kulturgeographische Verteilung der Präferenz für diverse Bauprinzipien von Toiletten. Während man sich in südlichen Ländern Europas mit dem simplen Verschwinden der Dejekte begnügt, muss im Norden der Vorgang des Verschwindens eigens noch einmal inszeniert und vor Augen geführt werden, indem die Dejekte gleichsam auf dem Präsentierteller rituell betrachtet werden, um ihrem dramatischen Abgang gebührenden Respekt zu zollen.

Technikbedienung als Geste

Jeder technische Apparat zwingt den Menschen, der ihn bedient, zu bestimmten Bewegungen und Handlungen. Bei der Hebel-Espressomaschine steht die Lust an einer Geste maskuliner Effektivität im Vordergrund. Wo beim Automaten ein mechanischer Druckknopf durch einen Touchscreen (ohne Funktionsvorteil) ersetzt wird, genießt man am Zwang zur feinmechanischeren Fingerbewegung den metaphorischen Zusammenhang von Körperentlastung, Informatisierung, Verfeinerung, Affinität zum Digitalen und die modische Nähe zum iPhone.












Die Melitta-Technik exponiert aus dem gesamten Zubereitungsprozess die klarere und deutlichere Scheidung des guten Getränks vom nassen braunen Häufchen des Kaffeesatzes, der sich im braun gewordenen Filter gesammelt hat. Betrachtet man diesen Vorgang nicht technisch, sondern auf der Ebene einer Inszenierung von Wahrnehmungen und Gesten, so eignet er sich vorzüglich dazu, den schlechten Rest mit spitzen Fingern aus dem Trichter zu fischen und in einer verächtlichen rituellen Bewegung in den Mülleimer zu werfen. Die Abtrennung des Sauberen vom Schmutzigen in Tateinheit mit der Scheidung des Guten vom Bösen ist im schuldgeplagten Protestantismus mit seiner niedrigen Peinlichkeitsschwelle und seiner geringen Schmutz- und Fehlertoleranz ein Anliegen, das sich in überschüssigen Szenifizierungen entäußern muss – als das, was man in psychologischer Perspektive ein Symptom, in kulturtheoretischer Hinsicht ein Symbol nennt.








So fügt es sich gut, dass man die übergroße Kaffeetasse, die für den Filterkaffee-Kult vorgesehen ist, in Deutschland als „Pott“ bezeichnet, mit jenem Wort also, das anspielungsreich zugleich den Nachttopf meint. Von hier aus wird erst verständlich, warum der schlechte Geschmack der dünnen Brühe als Motiv für einen Rückgang der Nachfrage nach Melitta nicht in Frage kommt: Es ist einer der Kernwerte der protestantischen Kultur der Deutschen, dass man auf Wohlgeschmack, kulinarische Finesse, sensorisch-ästhetische Ansprüche und luxuriöse Sinnlichkeiten ohnehin besser verzichten solle, zugunsten vernünftiger und moralischer Ziele. Dies ist die wesentliche Entgegensetzung der nationalen Mythologie Deutschlands sowohl gegenüber dem „dekadent luxuriösen“ Frankreich, als auch gegenüber dem zur Ästhetisierung, Vieldeutigkeit, Doppelmoral, Inszenierung und sinnlichen Genüsslichkeit neigenden Italien.









Das Filter-Fähnchen im Schaufenster der italienischen Bar ist daher nicht nur eine werbende Einladung, es inszeniert unterschwellig auch ein Stück Kulturkampf und Verspottung gegenüber den kulturlosen Gästen aus dem Norden. Auf diese Zurücksetzung ist der massive Import italienischer Espresso-Kultur seit den 80er Jahren die Antwort jener neuen deutschen Kulturformation, die man damals als „Toskana-Fraktion“ bezeichnete und die gegenwärtig im Biotop der „Latte-Macchiato-Muttis“ vom Prenzlauer Berg beerbt wurde.


Am schlechten Geschmack lässt sich beweisen und der Beweis genießen, ein guter Mensch zu sein. Wie anders wäre erklärbar, dass man in jeder größeren Stadt der Welt italienisch, französisch, türkisch, griechisch, russisch, thailändisch, vietnamesisch, japanisch, mexikanisch, amerikanisch oder auch südkreolisch essen gehen kann, während die „Deutsche Küche“ unbekannt ist? Doch die Verpönung der Geschmacksdimension geht noch weiter. Ein Reisender, welcher in Deutschland wie in jedem anderen Land seine Gastgeber darum bittet, die lokale Küche kennenlernen zu dürfen und in ein Deutsches Restaurant zu gehen, wird auf ahnungslose und erstaunte Gesichter treffen. „Ja, so was gibt es schon irgend wo, hab ich mal gehört, kenne ich aber nicht näher…“ Somit ist die deutsche Bevölkerung die weltweit einzige, der ihre eigene Küche unbekannt ist, während sie selbst an ihrer Vorliebe für schlechten Kaffee von außen jederzeit eindeutig identifizierbar ist.


Dass es eine deutsche Hausfrau war, deren Wunsch an den Kaffee nicht etwa auf eine Verbesserung des Geschmacks, sondern auf eine inszenierte Säuberung zielte, erscheint im kulturhistorischen Rückblick auf 100 Jahre Deutsches Kaffeekränzchen in einem neuen Licht. Die Erfindung von Melitta Bentz ist eine Medaille mit zwei Seiten: die Verbesserung der Funktion lässt sich vom Wunsch, der die Funktion erst zu einer Funktion im Dienst der Wunscherfüllung macht, nicht trennen. Das trifft nicht nur zu bei Melitta – das gilt für jede „funktionale“ Produktentwicklung.


Donnerstag, 30. Januar 2014

Home, smart home


Es gibt Techniken, die sich kontinuierlich verbessern, ihrem Wesen und Zweck dabei jedoch treu bleiben. Das Projekt des intelligenten Hauses jedoch ist zwar technologisch auf dem Vormarsch, hat sich dabei aber auf seinem Weg so sehr gewandelt, dass wir gezwungen sind, seine Vision und seine Parameter von Grund auf neu zu diskutieren.


In der digitalen Welt gehen die Uhren schneller als anderswo. Beim Blättern in einer 7 Jahre alten Ausgabe der Zeitschrift smart home merkt man, wie viel sich verändert hat: Wer sich ein intelligentes Haus bauen will, möge vorsorglich zu jeder Elektroleitung einen zweiten Kabelschacht für die Steuerung unter Putz verlegen. Das soll strengen Müttern ermöglichen, von der Küche aus dem Kinderzimmer den Strom abzudrehen. Wenn Fernseher, Elektrogitarren und Spielkonsolen schweigen und das Licht ausgeht, werden die tobenden Kleinen schon einschlafen! Zumindest dann, wenn sie nicht Rache üben wollen. Und sich in jenen Kellerraum einschleichen, der damals einzuplanen war für die Steuerungs-Zentrale. WLAN gab es zwar schon, als neueste Konkurrenz zu den im Haus verteilten Infrarot-Empfängern. Aber es war so langsam, dass den Konsumenten geraten wurde, dem guten alten LAN-Kabel den Vorzug zu geben. Beim Lesen kommt beinahe so etwas wie Smart-Home-Nostalgie auf. Dabei hat das Zeitalter des intelligenten Hauses noch nicht einmal so richtig begonnen.



Hauptthema war in den Anfangsjahren der Hausautomatisierung der Wunsch nach Steuerung und Kontrolle. Die wichtigste Innovation brachte das Internet, als es vom einstmals so genannten „Cyberspace“ auf die reale Welt der Dinge übergriff. Dass Vernetzung heute drahtlos gelingt, ohne Kabelsalat, war ein weiterer wichtiger Schritt zur Akzeptanz und Machbarkeit. Und dass die Hardware der Steuerungszentrale nicht mehr ein Zimmer füllt, sondern ein Schächtelchen, ist als Baustein für das Smart Home nicht zu unterschätzen. Den letzten und entscheidenden Schritt hat das Smartphone getan, indem es die Kontrolle vom Haus löste, mobil machte und via App an die Fingerspitze des Konsumenten heranführte. 



All diese Schritte lassen sich als technische Innovationen zur Verbesserung der Steuerung und Kontrolle zusammen fassen. Es ging darum, über ein mit zahlreichen elektrischen Funktionen ausgestattetes Haus die Herrschaft zu erlangen, ohne sich vom gemütlichen Sofa erheben zu müssen. Intelligent war dabei nicht das Haus, sondern sein menschlicher Bewohner. Unser heutiges Thema ist gleichsam das umgekehrte, denn wir diskutieren über das Gesteuertwerden und Kontrolliertwerden. Vor allem darüber, wie weit wir unsere Kontrolle abgeben wollen. Möglich wurde diese Umkehrung durch den Einzug der „künstlichen Intelligenz“, das heißt, durch Computerprogramme, die sich selbst steuern und dabei vom Verhalten des Nutzers lernen, was dessen statistisch erwartbare Wünsche sind. Bis dort hin, wo die Maschine besser weiß, was ihrem Nutzer wohl gefallen wird, als er selbst. 



„Big data“ im Kleinen, für daheim, geht von der Sensorik über zur Voraussagung der Zukunft. Weil an Tagen nach einem Temperatursturz des Wetters, an denen zugleich am Arbeitsplatz ein hoher Stresspegel gemessen werden konnte, der sich in der Fahrweise des Automobils während der Heimfahrt auswerten ließ, bisher eine hohe Neigung der Hausfrau, abends ein Vollbad zu nehmen, sich aus der Verhaltensstatistik ergeben hat, wird mit dem automatischen Öffnen des Garagentors zugleich heißes Wasser in die Wanne gelassen. Damit werden Wünsche erfüllt, bevor sie noch als Wünsche subjektiv bemerkt werden konnten. Wie sich das auf das Vermögen der Menschen, Wünsche zu empfinden, auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Erst mit der Implementierung der Künstlichen Intelligenz und der Vernetzung des Internets der Dinge beginnt das automatisierte Haus, seinem Namen „Smart Home“ gerecht zu werden. Erst, wenn das Haus selbst Sensoren hat, Messergebnisse mit bisherigen vergleicht und aus der Statistik Schlüsse zieht, die zu vom Programm initiierten Aktionen führen, kann man dem Haus selbst Intelligenz zusprechen. Dabei verwandelt es sich von einer Ansammlung dienender Maschinen zu einem Akteur, einem selbsttätigen, teilautonomen Wesen. Das Smart Home der Gegenwart ist dabei, sich ein Stück weit von seinen Bewohnern zu lösen und zu verselbständigen. 



Spannend wird die Einbettung dieser Innovation in jene kulturellen Traditionen, die das, was wir „wohnen“ nennen, stark prägen. Die Idee, dass ein Haus sich verselbständigt und sich in ein beseeltes Wesen verwandelt, ist uralt und kann zu den Archetypen der Mythologie gezählt werden. Unzählige Romane und Filme handeln von Geistern, die ein Haus aktivieren zum Eigenleben. Der „Zauberlehrling“ (bei Goethe wie bei Disney) wird die helfenden Geister, die er rief, nicht mehr los. Alle bisherigen Phantasien der Menschheit liefen in die Richtung, den Kontrollverlust über die Dingwelt, insbesondere das Haus, als Schrecknis anzusehen. Oder bestenfalls als Quelle der Heiterkeit, wie Jacques Tati in seinem Film „Mon Oncle“, einer Vorwegnahme des vollautomatisierten Hauses aus dem Jahre 1958:




Eine ganz andere und sehr neue Dimension von Befürchtungen, welche den Erfolg der Smart-Home-Technologien aktuell behindern könnten, ist mit dem Bekanntwerden der geheimdienstlichen Überwachung des Internet akut geworden. Die meisten Medien, die über den Ankauf des Raumthermostat- und Brandmelder-Herstellers „nest“ durch Google berichteten, rahmten die Meldung mit Bedenken, wie weit die Schlüsse auf das Alltagsverhalten reichen, die aus der Auswertung von Haustechnik-Daten gezogen werden können. Wer wird in Zukunft wissen, wann ich morgens aufstehe und wann ich zu Bett gehe, ob ich daheim rauche, wie oft ich dusche und wie lange? Und wie fühle ich mich dabei, in dem Bewusstsein, dass jedes (bisher) privateste Detail meiner Lebensführung unter Beobachtung steht? Selbst wenn die Selbst-Steuerung des Hauses Akzeptanz finden wird, bleibt noch die Frage offen, ob auch die Umkehr der Kontrollfunktion dafür in Kauf genommen wird. Dann nämlich, wenn nicht nur der „Hausgeist“ die Bewohner kontrolliert, sondern auch fremde Geister sich in dessen elektroneuronale Netze einflechten.



Während einzelne Unternehmen an rein technischen Lösungen im Detail arbeiten, ist nicht in Sicht, wer dafür sorgen könnte, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die neue Technik für ihre Konsumenten funktionieren kann, ohne zugleich gegen sie zu funktionieren in der Manier des Horrorfilms. In einer bisher bloß elektronisch vernetzten Welt wird die Formierung schlagkräftiger politischer Netzwerke durch traditionelles Konkurrenzdenken der einzelnen Firmen gebremst. Doch das intelligente Haus wird sich nur dann breit durchsetzen, wenn auch die Lieferanten seiner Details sich so intelligent vernetzten, wie das Produkt, unter dessen Dach sie sich zusammen finden müssen. Das smart home ist ein sich selbst organisierender Verbund von Apparaten. Wenn sich seine Produzenten nicht genügend organisieren, wird jeder von ihnen im Regen stehen bleiben. Das intelligente Haus gibt es nämlich nur ganz, oder gar nicht.



Die gute Nachricht für alle Innovatoren, die der Vision des animierten Wohnens zustreben, ist jedoch, dass es neben allen Hemmnissen auch einen gewaltigen Rückenwind gibt: Das menschliche Bedürfnis, nicht alleine zu sein. Auch dann nicht, und vor allem dann nicht, wenn man allein zuhause ist. Die ältesten „Technologien“ zur Befriedigung dieses Bedürfnisses sind die Haustiere. Zum Unterschied von wilden Tieren sind diese Produkte menschlicher Erfindung und Arbeit, der so genannten „Zähmung“. Mit ihnen zu wohnen ist uns so gewohnt, dass wir vergessen haben, dass Hund und Katz nicht zur Natur gehören, sondern zu den frühen und wichtigsten Innovationen der Technikgeschichte zählen. Sie sorgen seit langem dafür, dass man nicht alleine sein muss, wenn man allein zuhause ist, denn sie erfüllen den Wohnraum mit Leben. Man wird sie dereinst als Vorgängermodelle des Smarthome preisen.


Eine andere bedeutende Erfindung in dieser Linie lag nicht in der Technik selbst, sondern in der Entdeckung, dass man diese auch anders nutzen kann, als vorgesehen: Als der Fernsehapparat sich in den 60er und 70er Jahren im Wohnraum durchsetzte, wurde er noch entsprechend der alten Theorie benutzt, dass es um eine Technik der Übertragung von Information ginge, unterhaltsame Information inbegriffen. Erst in den 80er Jahren, vor allem dank MTV, verbreitete sich die Sitte, das Gerät nicht nur zum Fernsehen, sondern auch ohne hin zu sehen, als Hintergrundbespielung permanent laufen zu lassen. So wurde das TV-Gerät als Nachfolger des offenen Kaminfeuers zum Einsatz gebracht. Entzog man ihm die Aufmerksamkeit, spendete es den Sound menschlicher Stimmen und bunte bewegte Lichtreflexe. Es verwandelte sich damit von einem Übertragungsmedium zu einer Maschine, die das Gefühl menschlicher Anwesenheit generiert. So wurde der Fernseher zum Konkurrenzprodukt des Haustiers und zum Vorläufer des animierten Hauses. Wenn auch nur in jener Dimension seines Funktionierens, die das Bedürfnis nach Nicht-alleine-Sein bedient. Auch die Fernbedienung verdankt das Smarthome der Fernsehtechnik. Ohne sie wären wir vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen, das ganze Haus fernsteuern zu wollen.

Quelle: Quelle-Katalog, Toshiba Flachbild-Fernseher.

Das Bedürfnis, nicht alleine zu sein, ist eines der stärksten. Gut möglich, dass all die technischen Rationalitäten, mit denen die einzelnen Funktionen des Smarthome zu überzeugen versuchen, nur „Rationalisierungen“ (im psychoanalytischen Sinne) sind. Scheinvernünftige Vorwände also, hinter denen ein ganz anderes, infantileres, allzu menschliches Begehren uns ein Haus ersehnen lässt, das uns lebendig begleitet, umgibt und birgt. Ein Haus, das wir mit guten Geistern selbst beseelt und intelligent gemacht haben, damit nie jene Einsamkeit einkehrt, aus der alle Phantasien des bösen Geisterhauses entsprungen sind.

Aus dieser Perspektive kann man das teilautonom agierende Haus als eine von innen nach außen gewendete Hauskatze betrachten, als animierten Leib, in dessen Mutterbauch wir uns künftig geborgener fühlen werden, als je zuvor. Sobald mein Haus mich verwöhnt, wie könnte ich mich da jemals daheim ungeliebt fühlen? Vom mütterlichen Uterus unterscheidet sich das smart home jedoch in dem wichtigen Punkt, dass man heraus kann, wann immer man will. Daher ist das treffendste Sinnbild für dieses animierte animistische Objekt: der Känguru-Beutel für Menschen.