Dienstag, 31. Dezember 2013

Das Innovationsmuster der Kaffeemaschine


Seit annähernd 250 Jahren gibt es Kaffeemaschinen – in hunderten Variationen. Sie alle können nur eines: Kaffee machen. Doch nicht nur in ihrer äußeren Hülle, auch in ihrer Bauart, Technik und Handhabung könnten sie verschiedener nicht sein.

Blickt man zurück auf die Geschichte der Kaffeemaschine, erkennt man eine Kette von Innovationen, bei denen eine Verbesserung des Funktionierens jedoch nicht im Vordergrund steht. Gerade weil der Zweck simpel und lange schon bestens erreichbar ist, verlagert sich die Innovation auf immer neue technische Wege, diesen zu erfüllen.


Dabei wird die Ingenieurleistung des Erfindens primär von irrationalen äußeren Trends getrieben. Die jeweils neue Technik wird zum Medium, das ganz im Dienste jener gesellschaftlichen, kulturellen, ästhetischen und metaphorischen Veränderungen steht, die die Wünsche und Sehnsüchte der Kunden prägen. Design und technisches Funktionieren sind dabei nicht zu trennen. Gemeinsam generieren sie eine Erscheinung, die primär Ausdruck der bewegenden Themen und Faszinationen ihrer Epoche zu sein hat.

Technische Rationalität und irrationale Wünsche verbinden sich immer wieder neu zur Produktinnovation


Damit ist die Espressomaschine ein Musterbeispiel dafür, wie die Veränderungen der Gesellschaft auf die technische Innovation einwirken. Und eine Mahnung an alle Produktentwickler, das technische Funktionieren niemals isoliert vom kulturellen und sozialen Umfeld zu betrachten. Denn was da funktionieren soll, der Sinn und Zweck des Geräts, kann aus der technischen Rationalität allein nicht abgeleitet werden. Es ist der Kunde, insgesamt die Gesellschaft, die vorgibt, was jeweils unter „funktionierend“ zu verstehen ist, und deshalb dann auch für den Hersteller am Markt „funktioniert“.


Zum Unterschied von anderen technischen Produkten kann die Entwicklung der Kaffeemaschine nicht von der Zielsetzung abgeleitet werden, immer „besseren“ Kaffee zu brauen. Denn die Sensorik hat bewiesen, dass Kaffee zu jener Sorte von Genussmitteln gehört, bei denen die Präferenz primär durch Initiation und Kulturation fest gelegt wird. Ähnlich wie bei Whisky und Zigaretten wird der bittere Geschmack beim ersten Kosten stets als unangenehm empfunden. Diese negative Komponente qualifiziert den Kaffee zu einem Ritualgetränk, das erst als eingelerntes Genuss zu verschaffen vermag. Dies unterscheidet ein Genussmittel vom Lebensmittel: die Schwelle des Einstiegs hebt es vom Nützlichen ab. Und die Überwindung der Schwelle fixiert als Initiationsritus den „gewohnten“ Geschmack.

Das Ergebnis ist beliebig und hängt von der Technik ab


Man wird nun einwenden, mit der Erfindung der Espressomaschine im engeren Sinne 1948 sei tatsächlich ein Fortschritt in der Qualität des Ergebnisses erzielt worden. Die Kombination von weniger Hitze und mehr Druck löst mehr und schmackhaftere Aromastoffe aus dem Mahlgut, kombiniert mit weniger Koffein und auch verträglicher für den Magen. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Art der Zubereitung sich nicht rasch und flächendeckend durchgesetzt hat. Erst die Mode hat Espresso in Nordeuropa einen Teilmarkt beschert – mehr aus Gründen des Prestige, der Italien-Sehnsucht und des Zeitgeists, als aus Gründen des Wohlgeschmacks.

Die Bauart der jeweiligen Maschine bestimmt daher zumindest in gleichem Maße den Geschmack des Kaffees, wie umgekehrt das Ziel eines „guten“ Kaffees die Entwicklung neuer Zubereitungstechniken motiviert. Dieses Zusammenspiel von Technik und Ergebnis bewegt sich außerhalb eindimensionaler Mittel-Zweck-Relationen. Damit öffnet sich ein weiter Raum möglicher Gestaltungen und Funktionsweisen. In diesem ist in der historischen Rückschau besonders deutlich zu beobachten, wie Ingenieurskunst von kulturellem Wandel bestimmt ist. Und dass generell von einem Funktionieren nicht die Rede sein kann, ohne die dem technischen Denken vorausliegende Vorentscheidung der Gesellschaft, was denn als Ziel und Funktion überhaupt anzusehen und wünschenswert gilt. Auch Funktion bedarf der Geltung, und die Rationalität der Maschine ist angewiesen auf jenes der Rationalität Externe, das man Kultur nennt.

Wer das Innovationsmuster erkennt, kann ihm folgen und dabei Erster sein 


Auf das Thema gestoßen bin ich vor etlichen Jahren im Rahmen eines Beratungsauftrags seitens der WMF. Meine frühere Firma begleitete die Produktentwicklung einige Jahre lang. In der Arbeit ging es um Bestecke, erst bei einem Abendessen mit den leitenden Managern kam zufällig das Gespräch auf Kaffeemaschinen. Spontan fiel mir beim Rückblick in die Geschichte ein Entwicklungsgesetz auf, das ich gleich in die Diskussion warf. Etwa zwei Jahre später, das Abendessen war längst vergessen und die WMF nicht mehr unser Kunde, machte ich in einem Elektronikladen die freudige Entdeckung, dass mein Impuls Früchte getragen hatte. Doch worin besteht es nun, das Innovationsmuster der Kaffeemaschine?


Während der traditionelle türkische Kaffee in einer simplen Kanne zum Kochen gebracht wird, wobei der Satz sich durch die Schwerkraft beim Auskühlen von der Flüssigkeit trennt, wurde bei der Übernahme des Getränks in Europa schon im 18. Jahrhundert nach technischen Mitteln gesucht, diese Trennung zu verbessern, obwohl dies Einfluss auf das Aroma hatte. Schon die erste spezifisch technische Intervention in die Herstellungstradition borgte sich Verfahren und deren damalige äußere Gestalt von einer erfolgreichen Wissenschaft und Technik, der Chemie (und ihrer noch nicht klar abgegrenzten Vorgängerin, der Alchemie, in der das „Abscheiden“ der Elemente voneinander im Zentrum stand). Die ersten Kaffeemaschinen sahen aus wie aus dem Chemie-Labor: Glaskolben, von metallenen Halterungen über einer Flamme positioniert, verbunden mit Rohren und Schläuchen. Vorbild war die Destillation, ein Verfahren, das bereits Fortschritte für sich verbuchen hatte können.

Leittechnologien faszinieren die Gesellschaft


Daneben waren freilich auch allerlei Varianten im Gebrauch, die den technischen Aspekt, wie damals allgemein üblich, hinter architektonischen Formen oder designerischen Traditionen der Tischkultur zu verdecken suchten. Der nächste große historische Schritt setzte sich im 19. Jahrhundert durch. Entsprechend dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt stand ab nun die Physik im Zentrum der Aufmerksamkeit, vor allem die Dampfmaschine. Diese revolutionierte die Industrie und den Transport und wurde so zur Leittechnologie der Epoche, aber auch zum Sinnbild für den Fortschritt an und für sich. Und so nimmt es nicht Wunder, dass alsbald auch die Kaffeemaschine dem Zug der Zeit folgte und sich metaphorisch wie auch technologisch von der Chemie zur Physik, vom Glaskolben zur Dampfmaschine bewegte.
Die metaphorische Dimension dieser Verschiebung war so deutlich, dass sie auch den Zeitgenossen nicht entging: eine große Variationsbreite von Modellen ahmte die Dampflokomotive nicht nur im technischen Kern, sondern auch in der äußeren Gestaltung unmittelbar nach. In Technikmuseen lassen sich vielerlei Geräte bestaunen, die wie Dampfloks aussehen, aber Kaffeemaschinen sind.


Als Motiv hielt sich die Dampfmaschine bis in die 1940er Jahre, verlagerte sich jedoch vom äußeren Anblick der Lokomotive zur inneren Perspektive des Lokführers, der nun als (männlicher) Barista vor der Maschine stand und deren mitunter äußerst komplexes Funktionieren steuerte. Die schon am Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführte Kombination von Wasser und Dampf erlebte eine wahre Sprunginnovation erst in der Jahrhundertmitte, als mit dem mechanischen Hebel der Druck als dritte Komponente dazu kam und damit nicht nur das Funktions- und Gestaltungsprinzip, sondern auch die Qualität des Ergebnisses deutlich verbesserte.

Das Vernünftige entsteht aus dem Unvernünftigen


Jetzt erst war Espresso im heutigen Sinne möglich. Espresso, der auch seinen Namen verdiente.
Das Erstaunliche an dieser Entwicklung ist, dass diese Erfindung zuerst aus sinnbildlichen, zeitgeistigen Motiven gemacht wurde, und erst ein halbes Jahrhundert später eine damit mögliche Funktion hinzu entdeckt wird. Dies zeigt, was in der Geschichte der Technik schon oft beschrieben wurde: dass nämlich selten nur eine Funktionsidee der Entwicklung von Ingenieurslösungen voraus geht, sondern historisch häufiger ein Spiel oder Zufall am Anfang steht, das nachträglich zu rationalen und funktionalen Verwendungen der dabei zutage getretenen Effekte anstiftet.


Die Umstellung auf Elektrizität hatte zwar eine Vereinfachung der Zubereitung, dabei aber keine wesentliche Änderung am Funktionsprinzip oder am Ergebnis mit sich gebracht. Doch wer nun glaubt, die Erleichterung und Beschleunigung des Kaffeemachens sei als Fortschritt im funktionalen und rationalen Sinne zu begreifen, irrt. Betrachtet man den heutigen Markt der Heim-Espresso-Maschinen, so zeigt sich, dass neben der Convenience auch das umgekehrte Prinzip, vor allem im hochpreisigen Segment, wachsende Marktanteile gewinnt: Das Prinzip der Komplikation. Siebträgermaschinen machen das Kaffeekochen zu einem äußerst zeitraubenden, umständlichen und von schwankendem Erfolg gekrönten Vorgang. Es geht dabei um ein Ritual, das (ähnlich wie die erwähnte Bitternis) den Genusskaffee vom Alltags- und Allerweltskaffee abzuheben gestattet und damit auch eine soziale Distanz zwischen dem wahren Connaisseur und dem gemeinen Bürokaffeemenschen markiert. Obwohl wir das Prinzip, uns Zeitstrecken auf lustvolle Weise möglichst schwierig und anstrengend zu gestalten, aus allen Sportarten (aber auch Kreuzworträtseln für den Gehirnsport) kennen, fällt es uns schwer, bei der Produktentwicklung nicht dem Glauben an die universale Gültigkeit des Nützlichkeitsprinzips anzuhängen. Die Verkleinerung des Aufwands für ein Ergebnis mag im B2B Bereich gelten, für Consumer Products gilt es manchmal, manchmal auch nicht.


Zwei besondere Modelle, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute erfolgreich sind, dürfen nicht unerwähnt bleiben. Als innovationsresistenter Klassiker hat sich die Bialetti-Kanne erwiesen. Technisch eine Vorgängerin des Espresso-Prinzips, folgt sie in ihrer inneren Organisation dem alten Geist der Alchemie, ein Stück Weit auch der Physik der Dampfmaschine, denn sie benutzt die Verdampfung, um das heiße Wasser durch den Kaffee zu treiben. In ihrer äußeren Gestalt aber ist sie bis heute der Ästhetik des Kristallinen verpflichtet, einem Design-Stil, der zwischen 1900 und 1920 mit seiner natürlich anmutenden Geometrisierung zur Geburt der Klassischen Moderne beigetragen hatte. Im Symbol des Kristalls schimmert auch noch ein wenig der Stein der Weisen als zentrales Symbol der Alchemie durch. Ihm wurde zugetraut, ein Element in ein anderes zu verwandeln. Im Optimalfall in Gold. Im Falle des Kaffees wandelt dieser Kristall ein braunes Pulver zu duftendem Kaffee.


Das zweite Modell, das Hervorhebung verdient, hat sich entlang der Geschlechterdifferenz von der männlichen Linie der Dampfmaschinen abgesetzt, es wurde von einer schwäbischen Hausfrau entwickelt, die auf den Vornamen Melitta hörte. Weder Chemie noch Dampfmaschine, sondern simple Küchentechniken wie Löschblatt, Trichter und Sieb kommen zum Einsatz, der Vorgang erfolgt gemächlich und gemütlich, die Brühe ist sparsam, ergiebig und dünn. Die kulturelle Produktanalyse im Detail sei einem folgenden Kapitel vorbehalten.


In den 50er bis 70er Jahren wurde im Privathaushalt die Melittatechnik elektrifiziert, automatisiert und mit Kunststoffhüllen umkleidet. Spektakulär waren hingegen die Gastronomie-Geräte. Technisch wurde nur der Handhebel durch elektrische Pumpen ersetzt. Die ästhetische Hülle jedoch gab sich dem Glanz der Moden hin. Zwischen bauchigem Wurlitzer und Straßenkreuzer in den 50ern, rechteckig modernistisch in den 60ern, popig mit runden Ecken in den 70ern. In den Achtziger Jahren folgten postmoderne Rückgriffe auf die Hebelmaschinen, auf die Moderne folgte die Nostalgie.


Ab den 90er Jahren zeichnete sich in der Gesellschaft ein grundlegender Richtungswechsel der Technik ab. Waren bisher Transporttechnologien und deren Beschleunigung (von der Dampfmaschine übers Auto und Flugzeug bis zur Rakete) im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Selbstverständnisses gestanden, so gingen nun Medientechniken in Führung. Nicht mehr der Mensch sollte durch die Welt bewegt werden, sondern die Welt wurde zum Menschen transportiert, erst durch das Fernsehen, dann das Internet, heute im Modus des mobilen Online-Seins.


Die Kaffeemaschine folgt in ihrer Entwicklung den jeweiligen Leit-Technologien. War es da nicht naheliegend, oder geradezu zwingend, deren Design in eine zumindest assoziative Nähe zu den jeweils aktuellen Gerätschaften des Medienempfangs zu rücken? Genau das tat die WMF, mit viel Erfolg. Die Gastro- und größeren Haushaltsmaschinen lehnten sich an die Fernsehgeräte an, um an der Faszinationskraft des Flachbildschirms zu partizipieren. Die Kaffeemaschine wurde zur Theaterbühne und zum Rahmen. Aus „elektrisch“ wurde „elektronisch“, das zeigte sich am modernen Display. Und als der iPod den Musikkonsum revolutionierte, zögerte WMF nicht, eine neuartige technische Lösung zu entwickeln, die es gestattete, eine auf individuellen Genuss zugeschnittene kleine Maschine zu entwickeln, die aussah wie ein iPod.


Daraus sollte man jedoch auch nicht zu viel an Schlussfolgerungen ziehen. Auch wenn die Kaffeemaschine den aktuellen Leittechnologien stets auf den Fersen ist, wäre es zu einfach, bloß Ausschau zu halten nach neuen Vorbildern, um diese dann eins-zu-eins in eine Kaffeekoch-Maschine zu übertragen. Produktentwicklung ist komplexer, oder sollte es zumindest sein. Das zeigt sich am Erfolg von Nespresso, der nur teilweise (im Modell „Cube“) auch die Hardware-Form von Apple übernahm, im Wesen aber sich nicht am Äußeren, sondern an neuen Organisationsprinzipien sich orientierte, um zum quintessenziellen Kaffee-Produkt des Internet-Zeitalters zu werden. Doch auch Nespresso ist ein Kapitel für sich – und soll auch als solches hier abgehandelt werden.