Der lange Abschied von der Stechuhr und die erstaunlich
kurze Technikgeschichte der Arbeitszeitmessung
Zeit ist Geld. Kein Donald Duck Heft konnte je aufs
Wiederholen dieses Satzes verzichten. Er war die Basis der Industriellen
Revolution und ihr Sinnhorizont. Ein Glaubenssatz, der sich mit steigender
Güterproduktion selbst zu bewahrheiten schien. Ihn wie ein Gebet zu wiederholen
und zu verinnerlichen spendete Hoffnung für Generationen. Stellte in Aussicht,
am künftigen Gewinn des Rationalisierungsprojekts Moderne irgendwie teilhaben
zu können. Die Gesellschaft mittels Zeitdisziplin zur Arbeitsgesellschaft zu
formen, war ein Heilsprojekt über Jahrhunderte.
Doch wie steht es heute um die Verknüpfung von Zeit und
Geld? Das kulturelle Universum Donald Ducks ist in Auflösung begriffen. “Zeit
ist Geld” gilt nicht mehr. Wir haben immer weniger Zeit und bekommen immer
weniger Geld. Die Stechuhr wurde abmontiert, an ihre Stelle trat “das Projekt”.
Es löst die traditionelle Kopplung der Bezahlung vom Zeitmaß der aufgewendeten
Arbeit. Geld wert ist nur noch das Erreichen des Ziels. “Mach es zu deinem
Projekt!” - mit deiner Zeit, mit der Energie deiner projizierten Wünsche, aber
bitte nicht für unser Geld.
Kreativberufe und Wissensarbeiter sind die Avantgarde dieses
Wandels, sind die Extremisten der Zeitverleugnung. “An die Zeit will ich bei
diesem Projekt gar nicht denken!” – dieser Aufschrei durchtönt ihre Büros in
größter Regelmäßigkeit, wenn auch als einzige Regelmäßigkeit inmitten dieser in
nobler Zeitvergessenheit luxurierenden wie geschundenen Berufswelt. Fordert ein
Kunde immer neue Gestaltungs-Varianten nach, fällt das kaum auf. Aus dem
entgrenzten Zeitkontinuum der Selbstverwirklichung ist jene diskrete Einheit
des Messbaren gewichen, mit der sich Anzahl noch in Zahlung übertragen ließe:
die Arbeitsstunde. Sie wird nun gestaucht, bis sie ins “Arbeitspaket” passt.
Längst hat Projektarbeit sich über alle Branchen verteilt.
“Projektmanager” ist der gefragteste Beruf. Ab einer gewissen Anzahl von
Praktikanten und Prekariösen lohnt sich sogar dessen Fixanstellung. Das Wort
“Überstunde” bekam einen nostalgischen
Klang. Es setzt jene Stunde voraus, in deren Maßzahl man schon deshalb nicht
mehr rechnen kann, weil man jede Sekunde damit rechnen muss, vom Rechner
unterbrochen zu werden. Die Stechuhr wurde von einer neuen Technologie
überrundet. Mobiles Intenet im “always on” Modus greift jederzeit in Prozesse
und Konzentrationen ein. Fordert Aufmerksamkeit, verlangt “interaktiv” Reaktion
und zerteilt Zeit nicht mehr in regulierte Takte, sondern fährt irregulär und
taktlos dazwischen.
Die eben skizzierten Veränderungen der Arbeitsorganisation
werden meist aus politischen und ökonomischen Gründen abgeleitet: Von Neoliberalismus,
Turbokapitalismus, Globalisierung und Entsolidarisierung einer
Konkurrenzgesellschaft reden die Kritiker. Befürworter preisen den Ausstieg aus
dem Zeitkorsett, die gewonnene Freiheit
autonomer Zeiteinteilung, die Rücksichtnahme auf persönliche körperliche und
seelische Befindlichkeiten, den Zugewinn an Individualität, Verantwortung und
Selbstbestimmung. Eigenzeit statt Zeitdiktat lautet das Versprechen des
Arbeitsmarkts an die neuselbständige Ich-AG. Bei dieser handelt es sich um ein
paradoxes Gebilde: eine Aktiengesellschaft ohne jedes Kapital, bei der das Ich
übrig bleibt.
In der Nachkriegszeit wurde die Stechuhr eingeführt. Sie war
nicht nur ein Instrument der Knechtung, sie fixierte auch jene Messeinheit der
Arbeitsstunde, die zur Grundlage politischer Verhandlung und rechtlicher
Regulierung wurde. Das in manchen Branchen bis heute fortgeführte Modell
lebenslanger Fixanstellung, ausgestattet mit vielerlei rechtlichen Ansprüchen
und geregelter Arbeitszeit, wurde schon in den 70er Jahren erstmals gelockert,
als „mitarbeiterorientierte Gleitzeit“ kleine Freiheiten einräumte.
Eingeführt zur Motivation von Mitarbeitern in Zeiten der
Vollbeschäftigung, wandelte sich ab den 80er Jahren mit wachsender Arbeitslosigkeit
die Orientierung der „Flexiblen Arbeitszeitsysteme“: Nicht mehr den
Angestellten, sondern primär dem Betrieb und seinen Kunden sollen diese nunmehr
Vergünstigungen verschaffen. Der Funktionsverlust nationaler Grenzen setzt
schließlich nicht nur Unternehmen einem globalen Wettbewerb mit Anbietern
aus „Billiglohnländern“ aus. Auch im
jeweiligen Inland hat sich ein nicht territorialer Zweitmarkt gering bezahlter
Arbeit etabliert, auf dem nicht Wohlfahrt, sondern Überleben zählt.
Weil nicht mehr das Verrichten von Arbeit ein knappes Gut
ist, sondern die Gelegenheit, dafür Geld zu bekommen, stehen arbeitsrechtliche
Errungenschaften unter Druck. Vom Markt her, aber auch seitens ihrer
politischen und moralischen Selbstlegitimation. Die Fixierung der
Umtauschverhältnisse zwischen Zeit und Geld hatte ursprünglich auf eine
Verbesserung der finanziellen Lage der Ärmsten gezielt. Heute ist sie ein
zufälliges Privileg älterer Arbeitnehmer, dessen Finanzierung auf dem
Ausschluss der Nachkommenden beruht und von diesen nur noch als Ungerechtigkeit
empfunden werden kann. Es zählt heute in Betrieben zur Norm, dass Menschen mit
Überstundenbezahlung neben Menschen ohne Überstundenbezahlung am Schreibtisch
sitzen. Mit Urlaubsanspruch, Weihnachtsgeld, Arbeitslosenversicherung – oder
eben ohne. Wobei die besser ausgebildeten, motivierteren und mehr leistenden
jungen Mitarbeier in der Regel ohne auskommen müssen.
Wer dieses neue Arbeitszeit-Regime ökonomischen Mächten und
politischen Ideologien zuschreibt, übersieht die technischen Treiber der
Globalisierung. Erst haben schnell und günstig verfügbare Verkehrsmittel alle
territorial gebundenen Austauschverhältnisse geschwächt. Dann ist mit dem
Internet die alte Korrelation von Raum und Zeit zusammen gebrochen. Mit dem mobilen
Computing ist alles für jeden an jedem Ort und zu jeder Zeit verfügbar und
bearbeitbar geworden. Gegen diese technisch induzierte Entgrenzung lassen sich
tradierte Scheidungen von Arbeit und Freizeit, Selbst- und Fremdverwirklichung,
Produktion und Konsum, Materiellem und Immateriellem, Autonomie und Anpassung,
sportlichem und wirtschaftlichem Wettbewerb, Spiel und Pflicht nicht länger
halten. Das Freizeit- und Konsumprodukt Handy unterscheidet sich von der
Arbeitsmaschine Desktop nur noch im Außenmaß und Gewicht.
Arbeitszeit hat sich als differenzierende Größe aufgelöst.
Spiegelbildlich ist es der Freizeit ergangen. Des Selbstverwirklichers liebste
Beschäftigung ist schließlich jenes Erleben von Selbstwirksamkeit, das man
einst „arbeiten“ nannte, als es noch richtige Arbeit gab. Die alte Ordnung des
Hintereinander ist dem neuen Chaos des Gleichzeitigen gewichen. Situativ
disponierbar sind Teilzeit, Gleitzeit, Schichtarbeit, Arbeitszeitkonto, Arbeit
auf Abruf, Jahresarbeitszeitvertrag, Praktikum, Bildungskarenz, um nur einige
zu nennen. „Zeit ist Geld“ gilt nur noch beim automatisierten „Trading“ der
Finanzwirtschaft, wo Millisekunden zu Milliarden werden.
Warten müssen und unterbrochen werden sind die
Komplikationen der neuen Zeitmaschine. Wer wollte für eine damit verbrachte
Stunde noch Geld bezahlen? Zu Charlie Chaplins Sinnbild des an Uhrzeiger
geketteten Menschen steht Cloudcomputing in schärfstem Kontrast. Der Takt wird
nicht mehr in Sekunden, sondern in Megahertz gemessen, weit unter der Wahrnehmungsschwelle.
Die mobile Dauerbegleitung des digitalen Arbeitsgeräts hat uns aus der
Maschinenhalle und aus dem Zeitregime der Mechanik befreit. Die Geste des auf
die Uhr Blickens ist seltener geworden.
Fast könnte man meinen, der Mensch
hätte zu jener Eigenzeit und Zeitautonomie zurück gefunden, die vor der
Erfindung der Turmuhr selbstverständlich war.
Doch die Verkopplung unseres Lebens mit einer Zeit strukturierenden
Maschine ist enger geworden. Auch wenn diese nicht mehr rhythmisch
synchronisierend wie eine Galeere oder Dampfmaschine, sondern mit regellosen
Aufenthalten und Zwischenkünften unser Kontinuum zerrüttet. Sobald das Handy
sonntags piepst, merken wir, dass freie Zeit Arbeit auf Abruf ist.
Dieses Feuilleton ist erstmals in der Zeitschrift konstruktiv Nr. 288 erschienen. Die ungekürzte Version ist dort oder auf scribd.com zugänglich.